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schandfleck.ch_archiv/1999/nr.4
joachim ehrismann
 
rekruten und erwerbslose in fremden diensten teil 5: arbeitsdienst und totale produktion
er räkelte sich eine ganze weile lang im bett, döste wieder ein wenig weiter, drehte sich noch einmal um, schaute zum fenster hinaus: die bäume hatten bereits einzelne farbige blätter bekommen. er hörte das nahe bächlein rauschen, die kuhglocken bimmelten friedlich. nur der junge kater war etwas unruhig geworden, hatte schon einige male am bettende mit ausgefahrenen krallen nach seinen füssen gehascht und wollte jetzt unbedingt aus dem zimmer gelassen werden. wohl oder übel musste er also die bettdecke zurückschlagen und die beine aus dem bett schwingen. als erstes machte er sich einen kaffee, ging runter die zeitung holen und las darin herum. die anderen wg-bewohner waren in der schule, arbeiten gegangen oder irgendwo in den kletterferien.
am frühen nachmittag klingelte der wandapparat: "sind sie herr ehrismann?" "jaa?" "wieso sind sie nicht eingerückt? sie haben dienst!" "ich gehe nicht mehr ins militär, ich verweigere."
nach dem kurzen telefongespräch fühlte er sich eher ein bisschen besser als vorher, doch sonst hatte sich nichts verändert. er nahm eine dusche und studierte danach wie üblich die stellenanzeigen. später setzte er sich hinaus an die sonne und las in der schrift "nationalökonomie und filosofie, über den zusammenhang der nationalökonomie mit staat, recht, moral und bürgerlichem leben" von 1844: "alles, was dir der nationalökonom an leben nimmt und an menschheit, das alles ersetzt er dir in geld und reichtum und alles das, was du nicht kannst, das kann dein geld: es kann essen, trinken, auf den ball, ins teater gehen, es macht sich die kunst, die gelehrsamkeit, die historischen seltenheiten, die politische macht, es kann reisen, es kann dir das alles aneignen: es kann das alles kaufen; es ist das wahre vermögen. aber es, was all dies ist, es mag nichts als sich selbst schaffen, sich selbst kaufen, denn alles andere ist ja sein knecht, und wenn ich den herrn habe, habe ich den knecht und brauche ich seinen knecht nicht. alle leidenschaften und alle tätigkeit muss also untergehen in der habsucht. der arbeiter darf nur so viel haben, dass er leben will, und darf nur leben wollen, um zu haben."
gut, da ich zur zeit fast kein geld habe, kann ich also all diese dinge nicht tun. aber die erfahrung zeigt ja, dass ich nur geld haben kann, wenn ich fast die gesamte lebenszeit auf eine einseitige tätigkeit aufwende, zum beispiel wenn ich fünf tage in der woche, jahrein jahraus als sachbearbeiter in einer versicherung arbeite. dann habe ich zwar geld, kann aber all diese dinge, eben zum beispiel texte schreiben, mich einer wissenschaft widmen, auch nicht tun, da ich ja jetzt keine zeit dafür habe. um glücklich zu sein, das heisst meiner natürlichen veranlagung als mensch entsprechend leben zu können, müsste ich also fast vollständig in dieser tätigkeit aufgehen und sie als mein hauptinteresse empfinden können, was offensichtlich unmöglich ist.
(finden sie diese überlegungen überrissen oder gar masslos, dass er sich überlegt, wie er glücklich leben könnte? vielleicht finden sie ja schon das wort 'glücklich' übertrieben oder jedenfalls antiquiert?)

II
einige monate später kam natürlich - das heisst vielmehr, so wie es kommen musste, wenn dieser apparat einmal arbeitete - ein schreiben des sektionschefs, noch später die vorladung des untersuchungsrichters, usw: das verfahren lief. schlussendlich entschied er sich dann doch für den arbeitsdienst, den er dem gefängnis vorzog. ah halt, zivildienst hiess es ja jetzt, wo das neue gesetz endlich in kraft getreten war. obwohl, unter arbeitsdienst konnte er sich mehr vorstellen, was hiess den bloss noch zivil? bürgerlich, staatlich, das hiess also bürgerlicher dienst, dienst am bürgertum oder staatlicher dienst, staatsdienst?
ungefähr 99jährige bemühungen von einzelkämpfern, initiativen und ganzen bewegungen, das militär und mit ihm den krieg ganz und grundsätzlich abzuschaffen, hatten im endeffekt dazu geführt, für jene leute, die krieg und organisiertes töten nicht mit ihrem gewissen vereinbaren konnten, eventuell die möglichkeit zu schaffen, einen arbeits- oder zivildienst zu leisten. irgendwie fand er das nicht logisch: dass die herrschenden jene einsperren, die sich ihren ansprüchen offensichtlich widersetzen, war ja klar. aber wieso hatte der staat ein interesse daran, ihn stattdessen zur arbeit zu zwingen? offensichtlich wollten die herrschenden kreise die leute unbedingt im bereich der produktion oder allenfalls noch reproduktion gehalten wissen, oder wie in seinem falle auch gegen deren willen in diesen einschleusen. für die rechten im parlament war es immer noch als strafe gedacht: arbeitsdienst als strafdienst. für die parlamentslinke, wie sie sich nannte, war es offenbar eine art abgeschwächte form von militärdienst: das unterwerfende, staatsdienende und disziplinierende moment des militärs sollte erhalten bleiben, nur der destruktive faktor des tötens und mordens sollte durch den konstruktiven, sinnvollen der produktion ersetzt werden. wieso die linke den staatlichen dienst gerade hier weitererhalten wollte, war ihm ein rätsel: wo sie doch sonst für die sogenannte befreiung der staatlichen einrichtungen, institutionen und betriebe ritterhaft ihren mann oder ihre frau stellte, die mit hehrem säbelschwingen die köpfe rollen liessen und noch vor den rechtsliberalen befreiern voranritten im kampf für die rationalisierung und reprivatisierung.

III
ende der 90iger jahre, kam er eines abends nach hause. er arbeitete in einer internationalen handelsorganisation, die in die krise geraten war. früher einmal war sie als genossenschaft gegründet worden und sollte dann zur aktiengesellschaft hochrationalisiert werden, was allerdings misslang. heute wechselten die chefsanierer und mitarbeiterinnen im eilzugstempo. selbstverständlich, dass auch topeinsatz nicht genügte, da zuviele mitarbeiterinnen wegrationaliert worden waren oder von selbst das feld geräumt hatten. er duschte, ass etwas und verfiel in seine allabendliche letargie und müdigkeit. im traum quälte er sich durch die menschenmenge im hauptbahnhof wie jeden abend. an diesem abend gelang es ihm nicht, zum richtigen ausgang aus dieser unterwelt zu gelangen. die menschenmasse riss ihn mit sich fort und spülte ihn in eine riesige fabrikhalle. von einem überdimensionierten bildschirm herab sprach der chefmanager der uec (united european corporation), die sich zum grössten unternehmen der schweiz und ganz europas zusammenfusioniert hatte. für die strategen dieses konzerns war die region schweiz natürlich nur ein kleiner unbedeutender teilabsatzmarkt. die digitalisierte stimme hallte metallisch über die erregte masse hinweg: "unsere produktionseinheit schweiz hat sich gut gehalten. der umsatz konnte um 7 prozent, ich wiederhole, sieben prozent gesteigert werden. dieses ergebnis konnten wir nur dank ihrem hervorragenden einsatz erzielen. ihnen allen gilt meine vollste anerkennung! allerdings benötigen wir eine stark verbesserte rentabilität, um im globalen überlebenskampf bestehen zu können. dies verlangt von uns allen, von ihnen und von mir, eine grosse opferbereitschaft. erst wenn unsere produkte die welt erobert haben, erst wenn dank der hervorragenden qualität unserer erzeugnisse diese von uns geplanten und hergestellten produkte die mangelhaften natürlichen hervorbringungen, ihre fehlerhaften naturanlagen vollständig beseitigt und ersetzt haben, wird unser unternehmen den sieg davontragen. frage an sie, unsere belegschaft: wollt ihr die vollständige artifizierung der welt! wollt ihr die totale produktion!" die hysterie der masse hatte sich während diesen sätzen sprunghaft gesteigert und entlud sich in einem gigantischen, ohrenbetäubenden, archaischen aufschrei. schweissgebadet schreckte er auf.

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