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schandfleck.ch_archiv/2000/nr.1
joachim ehrismann
 

rekruten und erwerbslose in fremden diensten teil 6: die gewissensprüfung

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herr schadau schweifte mit seinen gedanken ab. gestern hatte er seine 2a, eine der gymerklassen, die er in wetzikon in geschichte unterrichtete, eine probe über die verbreitung der christlichen sekte im römischen reich schreiben lassen. er hatte am abend die aufsätze kurz überflogen. die meisten hatten die reisen des paulus betont, nur sein lieblingsschüler matthias hatte ausgeführt, wie mit der zunehmenden zersetzung des reiches das christentum immer mehr macht gewann. heute morgen war er mit seinem wagen in weniger als zwei stunden auf der nationalstrasse 1 vom zürcher oberland nach thun gerast. trotzdem war er ein wenig zu spät zur ersten anhörung gekommen. wegen eines unfalls beim autobahnkreuz härkingen stand er längere zeit in einem stau. über mittag war er mit seinen kollegen und den kolleginnen der zulassungskommission in den bären essen gegangen. wieder einmal so eine richtige kalbshaxe mit sauerkraut. das gab es selten in der schweiz. als er in deutschland gewohnt hatte, war das anders gewesen. überhaupt, die zeiten änderten sich. früher unternahmen sie ja noch richtige, verwerfliche eroberungskriege um macht und herrschaft über territorien. was sollte man heute gegen eine friedensmission der nato im kosovo einzuwenden haben? oder seine kollegen von der kommission zum beispiel: alle waren sie lehrer, psychologen, sachbearbeiter, pfaffen, sogar eine hausfrau figurierte auf der lohnliste! nur ihr unmittelbarer vorgesetzter war aus altem holz geschnitzt: vor wenigen jahren war sein gremium noch ein gericht gewesen, das nur aus militärs bestand. zudem waren die meisten von haus aus juristen, die diesen beruf auch im privatleben ausübten. beim kaffee hatte er sich mit der kollegin schmied über die schlechte stimmung in der zulassungskommission unterhalten. aus dem bwa, dem bundesamt für wirtschaft und arbeit, abteilung zivildienst, waren von ihrem big boss neue weisungen gekommen. die zulassungsquote musste für die deutschsprachigen zivildienstanwärter von jetzt 82 prozent auf 70 prozent gesenkt werden. bei den tessinern und welschen durfte man dagegen in zukunft etwas grosszügiger verfahren, da diese momentan nur quoten von rund 60 prozent erreichten. vielen kollegen bereitete das mühe, da sie anscheinend ernsthaft bemüht waren, die ehrlichen gesuchsteller mit ernsthaften gewissensnöten herauszufiltern und ihnen den zivildienst zu ermöglichen. vielleicht etwas zu offen hatte er der sozialarbeiterin schmied geschildert, dass ihm das keine probleme bereite, da ihm das system der zulassungsquoten von schule und studium her in fleisch und blut übergegangen sei. er hatte sich bemüht, nicht zu sehr auf ihre engen lederhosen zu starren. obwohl sie etwas den mund verzogen hatte, hatte er hinzugefügt, dass es eben nicht für alle platz habe und dass ja - zumindest teoretisch - alle die gleichen chancen hätten.
"haben sie noch eine frage an den gesuchsteller, herr schadau?" er zuckte zusammen, der leiter der heutigen befragungen, herr antonioni, hatte sich an ihn gewandt. "nein, nein", murmelte er etwas zerstreut. noch einmal hatte der jüngling - sicher war es noch nicht lange her, seit er seine maturprüfung geschafft hatte - jetzt gelegenheit, seine gründe, wieso er den militärdienst nicht mit seinem gewissen vereinbaren konnte, darzulegen. ja, sie waren zuvorkommend, nett, versuchten eine gute atmosfäre zu schaffen während den befragungen. mit interessierter miene hörte sich herr schadau die weiteren ausführungen des gesuchsstellers thomas s. an: dass er vegetarier sei, seit er sich mit vierzehn der skater-gruppe angeschlossen hatte; dass er nicht auto fahre und überdies bei der lancierung von umverkehr, einer volksinitiative, mitgemacht habe; dass er begonnen habe, sich mit der frage der militärverweigerung auseinanderzusetzen, als sie im geschichteunterricht das dritte reich behandelt hätten und dass er seither überhaupt gegen faschistische tendenzen, die in der westeuropäischen gesellschaft weiterhin ihr unwesen trieben, ankämpfe. er denke da zum beispiel an die praxis der ausschaffung von flüchtlingen sowie an die anschläge auf flüchtlingszentren oder an das kapitel der schweizer geschichte, das man mit dem wort nazigold zusammenfasse. gedankenverloren hörte schadau zu. mit seinem kugelschreiber kritzelte er kleine hakenkreuzchen.

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thomas s. hatte sich anfangs stark auf ihre fragen konzentriert und versucht, mit seinen antworten ihre erwartungen zu erfüllen. wohl unbewusst hatte er ihre anerkennung erheischen wollen. dadurch hatte er seine gedanken aber nicht richtig entwickelt und sich in widersprüche verwickelt. er war in der defensive. so hatte er keine chance. er musste unbedingt zu sich selbst finden und beschloss, lieber alles zu riskieren. im verlaufe seiner rede wurde er immer sicherer und kämpferischer und musste langsam aufpassen, sich nicht zu sehr hinreissen zu lassen. wenn er seine wahren anschauungen enthüllte, würde er möglicherweise nicht zugelassen werden. er überlegte kurz, ob er den aspekt des fairen handels ins spiel bringen sollte. ihm war aufgefallen, dass diese frau schmied schwarze lederhosen trug. das war sicher leder aus indien, das unter unmenschlichsten arbeitsbedingungen und unter anwendung zahlreicher hochgiftiger chemikalien produziert wurde, die ausserdem ganze landstriche unbewohnbar machten. doch wahrscheinlich würde er sie bloss gegen sich aufhetzen. es war das typische prüfungsdilemma: man, die kommission, erwartete überzeugende selbstdarstellung, klare darlegung, stringente beweisführung, aber jedes anzeichen von rebellion oder auch nur infragestellung der situation würde erbarmungslos geahndet werden. thomas merkte, dass er keine lust mehr hatte, diesen leuten irgendetwas recht zu machen. immer rascher verloren sie die macht über ihn. sowieso würde das militär schon sehr bald seine truppen halbieren, wie der chef des militärs, herr ogi, kürzlich den medien bekannt gegeben hatte (auf 150 000 bis 200 000 personen). dies bedeutete, dass die zahl der dienstpflichtigen verkleinert werden und dass die leute hier noch weniger einfluss haben würden, da ja nur dienstpflichtige ein zivildienstgesuch stellen konnten. was musste er sich hier rechtfertigen? sollten die sich doch rechtfertigen, sie kosteten ja steuergelder und kaschierten ihren egoismus mit nächstenliebe, pflichtgefühl und etik. was hatten die für ein recht, über seine motivation zu befinden, wenn er sich bereit erklärte, zivildienst zu leisten? absolut keins! ja im mittelalter hätten sie ihm vielleicht den tod auf dem scheiterhaufen bescheren können. im mittelalter hatten sich die herrschenden aber damit begnügt, dass ein ketzer sich wieder zu den herrschenden wahrheiten bekannte. heute genügte es dieser zulassungskommission nicht, wenn er sich zum zivildienst bekannte. sie wollte auch aufschluss über seine geheimsten gründe und motive. diese leute wollten möglichst in sein inneres blicken können und ihn sezieren. ein öffentliches bekenntnis war nicht mehr genug. klar, jeder konnte sagen, er möchte zivildienst machen. entscheidend war doch, dass er es gesagt hatte und somit den zivildienst leisten würde, wenn sie ihn liessen. doch in der moderne war das immer noch zu wenig. man musste es innerlich ernst meinen und es verinnerlicht haben. man musste so sein wie die gesellschaft es wünschte, auch psychisch. die bloss äusserliche unterwerfung genügte nicht. wenn man nicht so war, durfte und musste man an sich arbeiten! die moderne gesellschaft wollte den menschen auch von innen heraus bestimmen und modellieren. sie half einem dabei natürlich auch. die befrager hier wollten ihn keineswegs fertigmachen. und doch würde es unannehmlichkeiten bringen, wenn er die sache auf die spitze trieb. das war das ganze nicht wert. der ganze anlass war - obwohl er symptomatisch war - als gesellschaftliches ereignis viel zu unwichtig.

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