Auf
Anraten eines Kollegens in Sachen Literatur stehe ich nun vor der herausfordernden
und doch zugleich aussichtslosen Aufgabe, eine Textkritik aus dem Ärmel
zu schütteln, die sich unweigerlich mit einer poetischen Niederschrift
befassen soll, dessen Lektüre einige Monate in vergangene Ferne rückte.
Wie gehe ich vor? Ich wage einen ängstlichen Blick in die stete Richtung
meiner angesammelten und vor jeglichem Staubanfall geschützten Bücher,
lasse die ehrfürchtigen Augen schweifen, sinniere nach der heiligen
Unordnung und entdecke mit Müh und Not einen unscheinbaren weißen
Buchrücken, der mir das Ziel meiner Anstrengung zu offenbaren imstande
ist. Ich betaste, befühle, berieche, betraue mich, nehme das Werk aus
seinem zugestandenen archivarischen Platz und lege es sachte vor mir auf
den schwarzen Tisch, der seit Jahr und Tag meine innigste Stütze. Und
so erkenne ich, dass auf den zweiten, genaueren Blick die Unscheinbarkeit
mitnichten unscheinbar ist: Der Buchumschlag, in seiner diogeneshaften Erscheinung,
zeigt eine selbstangefertigte Zeichnung des Dichters, wie ich den ersten
Seiten entnehme: verformte Menschen getaucht in eine Farbenmischung von
Grünem und Blauem, einer Katastrophe nahend, in einer skurrilen, ausschnitthaften
Planetenwelt; dies alles vereinigt unter dem Titel "Die Astronomen".
Der Zeichner: Friedrich Dürrenmatt. Der Roman: Justiz.
Das ist alles, worüber ich mir im Moment gewiss bin.
Also weiter: Wie gehe ich vor? Mir fällt ein: die Notizen. Ich weiß,
ich habe mir Notizen gemacht beim Lesen, weil ich schnell in Vergessenheit
gerate. Allein, wo sind sie? Das Nächstliegende wäre zwischen
den Seiten des Buches, also schlage ich es sachte auf, eine Seite um die
andere, gerate schon zwischen die Zeilen, als ein Blatt Papier seinen Ernährer
verlassend auf den Tisch gleitet: meine Notizen. Und plötzlich, beim
Betrachten meines Gekritzelten, Labyrinthischen, Missverständlichen,
fällt mir mein in vornehmes Braun gehaltene Notizbuch ein, das, wenn
ich keinem selbstauferlegten Irrtum aufsitze, um nichts weniger Aufzeichnungen
über den vorliegenden Roman enthalten muss, vorausgesetzt es will nicht
der Bedeutungslosigkeit verfallen. Schon beim ersten Blick tut es dies nicht.
Nun kann ich beginnen, nun sei jeder federnder Rückzug obsolet.
Um klare Verhältnisse
zu schaffen, ich halte dieses Buch für grandios, für eines der
besten Dürrenmatts. Der Leser, auch der geübte, wird sofort
in seinen Bann gezogen, muss der verworrenen Geschichte folgen, um seinen
Schlaf des Beruhigten zu stillen, wird nicht davon ablassen, bis er zum
Eingeweihten wird, bis er verschmelzt mit dem Erzähler über
dessen Tod hinaus. Vieles Ausgesprochene, Behandelte gewinnt durch Zeitsprünge,
raffinierte Vor- und Rückblenden erst im Laufe der Geschichte an
Klarheit, was nicht nur die Durchdachtheit der Geschichte erkennen lässt,
sondern auch zur lektürenhaften Vergnüglichkeit beiträgt.
Dürrenmatt beherrscht es ausgezeichnet, die narrative Balance zu
halten zwischen einer Handlung, die an durchdachter Komplexität nichts
ferner zu wünschen übrig lässt, und einer reflexiven Begabtheit,
die sonst schwerlich zu finden ist in zu Vergleichbarkeit geeigneter Literatur.
Die sich wiederholenden und so Stimmung schaffenden Hinweise auf die für
die Geschichte und seiner Literarizität essentiellen und nothaften
Unterscheidbarkeit von Roman und Bericht geben eine Qualität wieder,
die durch ihren ansatzweisen literaturtheoretischen Charakter das Werk
zu einem potentiellen Untersuchungsgegenstand macht: Wenn ich diese
Gespräche wiederzugeben versuche - "mögliche", weil
ich ihnen nicht persönlich beigewohnt habe -, so geschieht es nicht
in der Absicht, einen Roman zu schrieben. Es geschieht aus der Notwendigkeit,
ein Geschehen so getreu wie möglich aufzuzeichnen (...). Hier
kommt der erste von drei wichtigen Aspekten zum Vorschein: Wenn Dürrenmatt
als Verfasser einzelnen Gesprächen das Adjektiv "möglich"
voransetzt, hebt er die übliche erzählerische Auktorialität
auf und gibt dem Leser zu verstehen, dass der allumfassenden Gottperspektive
jegliche Relevanz zu entziehen ist. Dies macht den Roman zu einer Art
fiktionalen Eventualität, der die Wirklichkeit jederzeit vorgeschoben
werden kann; und reiht den Schweizer Dichter ganz nahe an den großen
Meister Frisch.
Der zweite bedeutende Aspekt des Texts geht einher mit dem erstgenannten,
der nebulösen Spielart von Wirklichkeit und Möglichkeit, und
findet Ansatz in der konkreten Handlung der Geschehnisse: Der stadtweit
bekannte, geschätzte und für seine Weltgewandheit und seinen
finanziellen Reichtum respektierte Kantonsrat Dr.h.c. Isaak Kohler begeht
en passant eines Abends in einem gefüllten Schweizer Kaffeehaus einen
kaltblütigen Mord, indem er den philosophischen Professor Adolf Winter
erschießt. Mit dieser Tat eröffnet sich ein kammerschauspielhafter
Reigen, dessen Beabsichtigung nur eines zur Folge hat: Das Motiv des Isaak
Kohler: Der Kommandant wußte nicht, was er antworten sollte,
war verwirrt, ärgerte sich. Der Mörder dagegen war geradezu
heiter geworden, lachte mehrere Male leise vor sich hin, schien sich auf
eine unbegreifliche Weise zu amüsieren. "Nun. Warum hast du
den Professor ermordet?" begann der Kommandant aufs neue hartnäckig
zu fragen, eindringlich, wischte sich wieder den Schweiß aus dem
Nacken und von der Stirn. "Ich habe keinen Grund", gestand der
Kantonsrat.
Und so ergattert sich der etwas abgebrannte und sich im Alkohol suhlende
Rechtsanwalt Felix Spät, der Icherzähler der Geschichte, den
Fall und sucht unersättlich, auf endlichen beruflichen Erfolg spähend,
die brennenden Antworten auf die ebenso brennenden Fragen. Bei einem Treffen
zwischen Spät und Kohler in dessen Gefängniszimmer eröffnen
sich die grundlegenden Probleme des Buchs. Der Mörder engagiert Spät,
einen Auftrag zu übernehmen: "Sie sollen meinen Fall unter
der Annahme neu untersuchen, ich sei nicht der Mörder gewesen."
(...) "Sie sollen ja auch nicht die Wirklichkeit untersuchen, (...),
sondern eine der Möglichkeiten, die hinter der Wirklichkeit stehen.
Sehn Sie, lieber Spät, die Wirklichkeit kennen wir ja nun, dafür
sitze ich hier und flechte Körbe, aber das Mögliche kennen wir
kaum. Begreiflich. Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche
streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit
werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und
deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, daß wir das Wirkliche
umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen."
Dass Spät seiner Handlungen nicht Herr zu werden weiß und es
bald nur noch zwei mögliche Konsequenzen geben kann, zeigt die berichtverstärkende
direkte Ansprache an den Staatsanwalt: Endlich, denn Sie werden es
mit Interesse lesen und anstreichen. Sie: Ganz recht, damit sind Sie gemeint,
Herr Staatsanwalt Joachim Feuser. Zucken Sie nur ruhig zusammen. Warum
nicht persönlich werden, als Nachfolger Jämmerlins werden Sie
ja doch nach dem Kommandanten diese Zeilen als zweiter lesen - was Sie
hiermit auch tun -, und es bereitet mir in diesem Augenblick einen Höllenspaß
- wahrscheinlich im doppelten Sinne des Wortes -, Sie gleichsam vom Jenseits
her zu grüßen. (...) Eben haben Sie mich ordnungshalber in
der Leichenhalle besichtigt, in Ihrem hellen Regenmantel, den Hut höflicherweise
in der Hand und die Miene amtlich düster, der Selbstmord ist sauber
durchgeführt, das müssen Sie zugeben, aber auch bei Kohler habe
ich kunstgerechte Arbeit geleistet, es sieht sehr feierlich aus, wir beide
so nebeneinander.
Späts Scheitern Kohlers fiktive Unschuld betreffend, die tatsächliche
Freilassung Kohlers, der Mord und der Selbstmord in unmittelbarer Folge
geben diesem berichtenden Roman oder romanhaften Bericht einen abseits
der gesellschaftskritischen und literaturtheoretischen Überlegungen
einen ernstzunehmend vergnüglichen und unterhaltsamen Charakter.
Hinzu kommt eine gekonnte sprachliche Raffinesse, die dem Autor von diversen
und im Grunde zweitrangigen Kriminalgrotesken nicht selbstverständlich
zugeordnet werden kann. Die beispiellosen Beschreibungen der einzelnen,
völlig eigenständigen burlesken Figuren verlangen die Anerkennung
einer brillanten Eindringlichkeit: Schönbächler liebte Symphonien.
Seine Theorie (er war voller Theorien): Symphonien zwängen am wenigsten
zum Mithören, man könne dazu gähnen, essen, lesen, schlafen,
Gespräche führen usw., in ihnen hebe die Musik sich selber auf,
werde unhörbar wie die Musik der Sphären. Den Konzertsaal lehnte
er als barbarisch ab. Er mache aus der Musik einen Kult. Nur als Hintergrundmusik
sei die Symphonie statthaft, behauptete er, nur als "Fond" sei
sie etwas Humanes und nicht etwas Vergewaltigendes, so habe er die Neunte
Beethoven erst begriffen, als er dazu einen Potaufeu gegessen habe, zu
Brahms empfahl er Kreuzworträtsel, auch Wiener Schnitzel seien möglich,
zu Bruckner Jassen oder Pokern. Am besten jedoch sei es, gleich zwei Symphonien
gleichzeitig laufen zu lassen.
Den dritten Punkt widme ich Dürrenmatts Unbehagen gegenüber
seinem Vaterland. Den ganzen Roman hindurch lassen sich Hinweise auf die
schweizerische Lebensart und dessen unkritischen Umgang mit hierarchischen
Strukturen erkennen. Doch der Autor bleibt verhalten; nüchtern, ironisch
und leicht abschätzig konsultiert er: Land und Leute: (...) Alles
ist miteinander verflochten: Gegründet wurde das Unternehmen, welches
sich bald unser Staat, bald unser Vaterland nennt, vor etwas mehr als
zwanzig Generationen, grob gerechnet. Ort: Zuerst spielte sich alles der
Hauptsache nach im Kalk, Granit und in der Molasse ab, später kam
Tertiäres hinzu. Klima: leidlich. Zeit: Zuerst mittelmäßig,
die habsburgische Hausmacht braute sich zusammen, viel Faustrecht, es
galt sich durchzuprügeln, und man prügelte sich durch, knackte
Ritter, Klöster und Burgen wie Panzerschränke, gewaltige Plünderungen,
Beute, Gefangene wurden keine gemacht, vor den Schlachten Gebet und nach
dem Gemetzel Orgien, enorme Saufereien (...) nach kaum acht Generationen
schon der berühmte Rückzug, von da noch weitere sieben Generationen
relative Wildheit, teils mordete man sich nun untereinander, unterjochte
Bauern (mit der Freiheit nahm man es nie so genau) und schlug sich um
die Religion (...) Man mauserte sich dann durch zwei Weltkriege, manövrierte
zwischen Bestien, kam immer wieder davon.
Meine spärlichen
Notizen nähern sich dem Ende. Behutsam schließe ich das Buch,
erblicke noch einmal die Zeichnung und reihe es schließlich wieder
ein in die großen Klugheiten unserer und vergangner Tage. Das in
vornehmes Braun gehaltene Notizbuch wird an seinen Platz gelegt, die Notizen
selbst vernichtet.
Ein weiteres Mal wurde ich Zeuge großer Begebenheiten, ein weiteres
Mal eine Anteilnahme von den unendlichen Wirklichkeiten dieser Welt.
Dürrenmatt hat mit Justiz einen großen Roman geschrieben,
der nicht übersehen werden darf im Dickicht der belanglosen Heiterkeitstexte.
Friedrich Dürrenmatt: Justiz. Zürich: Diogenes
Verlag 1985.
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als
junger mensch, autoritär erzogen zuhause und in der schule, durch kindheit
und adoleszenz permanent angehalten, zu loben, zu glauben, zu lieben, was
gepriesen und bewiesen war, doch im kern kriminell, betrogen, verlogen,
korrupt; als einer, auf den man mit befehlen ballerte, dem man mit spitzen
pfeilen die haut durchlöcherte und benimm in die adern spritzte, den
man durch bildung, regeln, zensuren zu einem brauchbaren, händelbaren,
rentablen menschen dressieren wollte; der, plötzlich erwachsen und
in die welt gestellt, in die freiheit entlassen, wie er hoffte, erst nach
und nach begriff, wie sich die dinge eigentlich verhielten, von konträren
ansichten hörte, widerstand erkannte - als solcher mensch war ich von
dürrenmatt begeistert.
und ich mag ihn immer noch, imgrunde, den alten fritz, obschon er meine
ansprüche an dichtung und poesie längst nicht mehr, die an logisch
konstruierte filosofische gedankengebäude nur noch zum teil erfüllen
kann. was ich, heute, von seiner sprache halte, habe ich des breiten dargestellt:
http://www.schandfleck.ch/textkritik/duerrenmatt.html
und möchte mich
nicht zu weitschweifig wiederholen. indes sei im folgenden auf deine beurteilung
von 'justiz', im sinne eines herausfordernden kollegialen disputs, mit
freude eingegangen.
'eine poetische niederschrift',
lese ich gleich zu beginn. ein grosses wort, das aber nicht weiter definiert
wird. ich halte poesie für höchste sprachkunst, sprachschöpfung,
für steigerung des empfindens, verlebendigung des gesagten, für
eine irrationale, künstlerische komponente des schreibens. davon
spüre und sehe ich im gesamten prosawerk dürrenmatts nichts.
es interessierten mich daher einige beispiele, wo du poesie zu erkennen
vermagst.
die durchdachtheit der geschichte, da stimme ich zu, ist gelungen, hervorragend.
auch mir gefallen die zeitsprünge und rückblenden. dürrenmatt
dafür zu loben, halte ich für richtig, aber: es handelt sich
hier erst bloss um ein logisches gerüst, um die konstruktion, die
mustergültig errichtet ist. wenn zwei autoren denselben dichterischen
rang einnehmen, ihre sprachkunst ebenbürtig erscheint, so ist in
der bewertung dem der vorzug zu geben, der die bessere, dem tema adäquatere
konstruktion bietet oder dem, der wesentlicheres zu sagen hat. das sind
für mich jedoch sekundäre kriterien. entscheidend für den
rang eines dichters, ja dafür, ob ich ihm den titel überhaupt
zugestehe, ist alleine seine sprache, also die art und weise, wie ein
schriftsteller sprachlich gestaltet, wie er etwas sagt. und hier eben,
behaupte ich, bleibt dürrenmatt konventionell und rational. ein punkt,
auf den wir gerne näher eingehen können, ich verweise auf meine
schon erwähnte abhandlung.
die gesellschaftskritischen überlegungen dürrenmatts lese ich,
wahrscheinlich wie du, ebenfalls mit vergnügen. nicht selten habe
ich mich sehr amüsiert. es gibt auch witzige pointen, zum beispiel
die einlagen mit dem christlichen gesangsverein. aber wie ernst sind seine
gesellschaftskritischen überlegungen zu nehmen? hier eine stelle,
die auch du zitierst, unter 'unbehagen gegenüber seinem vaterland'
- gewiss ein gesellschaftskritisches tema, das dürrenmatt in seinem
werk immer und immer wieder aufgreift. die abschnitte: land und leute
und gleich darauf folgend: gegenwart (1957 n. chr.), seiten 34 bis 37
in meiner diogenesausgabe.
meine überlegungen dazu:
zu einem mord gehört auch die mittlere jahrestemperatur, gehören
erdbebenhäufigkeit und menschliches klima, steht zu lesen. ja, das
ist witzig, kurz gelacht und weitergelesen. ernstnehmen könnte man
nur das 'menschliche klima', aber in diesem kontext, beiläufig erwähnt
wie die erdbeben, bleibt es so dahingesagt. nichts vertiefendes also.
die geologischen gegebenheiten im stile eines schüleraufsatzes zusammengefasst.
dann: man prügelte sich durch: belebt, witzig, aber oberflächlich.
plünderungen, beute, sauforgien. eine alternatvidarstellung zum geschichtsunterricht,
gewiss, der nationalist schäumt, der sozialist kichert. aber substanz?
'relative wildheit', 'man mordete sich nun untereinander' (was man zuvor
allerdings auch schon getan), man wird nun 'aus der ferne zusammengetätscht'
(treffender helvetismus), man 'schlug sich um die religion', 'gab sein
blut dem meistbietenden' - naja, schön und gut, aber entlarvung der
macht? ernstzunehmender diskurs? nein, schlagworte, nichts weiter, kolportage.
das verdienst dürrenmatts liegt darin, die heuchler aufgeschreckt
zu haben. er macht ein bisschen lärm und motzt herum. er verletzt
den bürgerlichen anstand, das ist was zum einreiben, auch für
einen wie mich, aber ernstzunehmen? vertieft er irgendwo, irgendwie, dass
im namen gottes und der religion zum krieg gehetzt wurde und wird? erklärt
er, wie das immer hat funktionieren können, klärt er auf? entlarvt
er die rede von der freiheit als lüge, urlüge, sagt er, dass
man die dummen mit der parole nur einfing und einfängt, indem man
ihnen angst vor dem niedergang, vor dem untergang einjagt? entblösst
er die panikmache als herrschaftsprinzip? 'mit der freiheit nahm man es
nie so genau'!
'man schlug sich um die religion' - ja, aber wurde man vielleicht indoktriniert,
entmündigt, aufgehetzt? man 'betrieb söldnerei im grossen stil'
- ja, die nichts zu fressen und wenig zum schnaufen hatten, wurden von
den gnädigen herren an die fürsten verkauft, im staate bern
gangundgäbe. wer kommt schon zur welt, sein blut den meistbietenden
zu verkaufen, wie das 'man' suggeriert? lese ich was davon, dass man in
kriegsdienste gepresst wurde und wird? unter androhung, gerade auch damals,
der todesstrafe, des entzugs von besitz, der ächtung der familie
bis in die x.te generation? 'endlich' die französische revolution!
nieder mit dem 'verrotteten system von gottesgnaden'? hehe, und dieser
kaiser, in notre-dame in anwesenheit des papstes gekrönt, im mailänder
dom mit der eisernen krone der langobarden gekürt, wäre nicht
selbst ein gottesgnädeler gewesen? welche türen will der autor
einrennen? des weitern erzählt er von allbekanntem (bei uns, abteilung
schulwissen): vom lyriker von salis-seewis, der general gewesen, das wissen
wir, die 'niederlagen taten gut', wissen wir auch, haben wir gebüffelt
und gelernt, der pestalozzi, genau, aber wer weiss denn wirklich genaueres,
die 'radikale wende zu geschäft und gewerbe' - war sie so redikal?
ich stamme, frei von stolz, aber drum weiss ichs, aus einer berner zunft,
deren angehörige sich schon im mittelalter durch geld und gewerbe
vorrechte erstritten, gegen die adligen, zinsgeschäfte tätigten,
besitz akkumulierten, nur geschäft im sinne hatten. dürrenmatt,
berner wie ich, dürfte die geschichte bekannt gewesen sein. er geht
locker darüber hinweg. 'radikale wende zu geschäft und gewerbe'!
dieser kleinkarierte ellbogenbürgergeist war doch nichts neues! 'alles
musste rentieren', als wäre da was andres gewesen zuvor. hier, finde
ich, verklärt dürrenmatt mit seiner saloppen art die geschichte.
ein allgemeiner brauch gerade unter intellektuellen hierzulande: die mystifizierung,
glorifizierung der 1848-er jahre, der zeit der staatsgründung! er
kolportiert genau das schulwissen, sich fortschrittlich gebende scheinwissen,
das ihm eingetrichtert wurde. wahrscheinlich, ich halte es ihm zugute,
will er das garnicht. aber man muss schon etwas tiefer schürfen,
um diesen dingen auf die spur zu kommen. er bleibt an der oberfläche
und schnappt nach ein paar wohlfeilen bissen. zum aufklärer, zum
brauchbaren kritiker, taugt er nun einmal nicht.
'von den myten her droht kurzschlussgefahr'; 'die sage der kriegerischen
väter kommt hoch' - sehr, sehr beliebige formulierungen. dass man
sich 'zu widerstandskämpfern umdichtet', nach '45, geht aus dem zusammenhang
hervor - eine allgemeine erkenntnis. aber nicht sehr genau: von 'umdichten'
kann keine rede sein. dürrenmatt, jahrgang 1921, müsste es besser
wissen. man hat dem volk auch '33-'45 diese dichtung glauben gemacht,
und nicht zu knapp. man tat es ebenso im ersten weltkrieg. unser land
'von der geschichte abgetreten, als es ins grosse geschäft eintrat'
- was soll ich mit der floskel 'von der geschichte abgetreten'?
neinnein, das ist alles zu unselbständiges denken. dürrenmatt
als grossen gesellschaftskritiker hinzustellen fände ich lächerlich.
grosse klugheiten?
dann nimm deinen nietzsche zur hand. das ist gross. oder wenn du einen
zeitgenossen dürrenmatts willst: canetti, 'masse und macht'. in analyse
und kritik verblasst im verlgeich sämtliches von dürrenmatt.
von der überragenden sprachkunst nietzsches noch zu schweigen. und
vom grossartigen deutsch canettis ebenso.
zur 'nebulösen spielart von wirklichkeit und möglichkeit': die
wirklichkeit als ein sonderfall des möglichen. die wirklichkeit als
eine wahrscheinlichkeit in einer unsumme von wahrscheinlichkeiten, jede
für sich genommen eine unwahrscheinlichkeit. die wirklichkeit ist
eine unwahrscheinlichkeit, die eingetreten ist. ich glaube, so hat ers
in den 'stoffen' formuliert, und 'justiz' entspricht genau dieser filosofie,
ist ihre umsetzung und durchführung. dies gelingt ihm ohne jeden
zweifel hervorragend, ist auch in andern büchern sein markenzeichen,
ein in sich stimmiges system konsequent abzuhandeln, etwa im kriminalroman
'der richter und sein henker' oder auch in seinen essays. es bereitet
mitunter grossen spass, diese sachen zu lesen, manches wirkt dadurch grotesk,
fantastisch, durchtrieben. aber es sind rein matematisch-abstrakte, rationale
gedankenspiele, ins sinnliche und atmosfärische, zur dichtung dringt
dürrenmatt damit nicht vor, zu sehr bleibt er filosof, intellektueller,
bleibt seine prosa konstatierend, das werk eines gedankenschlossers, eines
oft witzigen, überbordenden, einfallsreichen, aber eben nicht eines
dichters. ein dichter ergösse sich nicht in dermassen viele gemeinplätze,
gestelztheiten, klischierungen wie dürrenmatt, bei aller ironie wirken
seine figuren mehr wie tokkel als wie menschen, und einen persönlichen
daumenabdruck hinterlässt seine schreibe keinesfalls. manches eingängige
erscheint auf den ersten blick gut, amüsant, flott, aber beim zweiten
lesen verliert die sache, fehlt dann doch die poetische substanz, vermisst
man seelenspannung, und das rein intellektuelle abenteuer ist auch schon
bekannt und gewinnt nicht mehr dazu.
ist es nicht im übrigen eine sehr platte vorstellung der realität,
die dürrenmatt zum besten gibt? wäre nicht zu hinterfragen (und
damit erst recht auf dürrenmattsche art zu jonglieren), was realität
denn eigentlich sei, ja, ob der begriff noch etwas bezeichnen kann oder
alles und nichts besagt? als ob allen, als ob überhaupt klar wäre,
was realität eigentlich sei. ich sage dir, nichts ist nebulöser.
die börsenkurse? gerechtigkeit? die geschichte?
vom 'meister' frisch zu lesen, schmerzt. was mir auffällt, ist die
zeitweilige grosse ähnlichkeit des stils, ungewöhnlich bei dürrenmatt.
er hat seine etwas linkische, unbeholfene art zu schreiben aufgegeben,
zu seinem vorteil, und tönt jetzt oft genau wie frisch. lies mal
die seiten 44 ff ('unser zuchthaus') - könnte diese sprache nicht
aus dem 'stiller' stammen? auch dieser punkt spricht gegen dürrenmatt
als dichter und entlarvt ihn als einen imitator. (wobei auch frischs sprache
keine originäre ist). du hast recht - keine dürrenmatt-typische
sprache mancherorts, eigentlich durchs ganze buch hindurch, mehr oder
weniger. andrerseits widerspreche ich erstens deiner anmerkung, dürrenmatt
habe 'diverse' kriminalgrotesken geschrieben. falls du 'justiz' dazurechnest,
hat er insgesamt drei geschrieben, zuvor also genau zwei, und zwar als
auftragsarbeiten am anfange seiner schriftstellerlaufbahn, in den 50iger
jahren. sie gehören aber, wie 'justiz', zum besten dürrenmattscher
prosa, die hier noch nicht so linkisch ist wie später, und sind weder
für seine gesamte prosa wie auch als krimis nicht zweitrangig (denn
wer erwartet grosse literatur in einem kriminalroman, nicht wahr?).
ich vergnüge mich durchaus mit bescheidener literatur, lese und höre
manches grosse nicht oder wenig, weil es meinen geschmack nicht trifft
oder meine stimmung nach etwas andrem verlangt. bruckner etwa kann mir
gestohlen sein, ebenso mozart. ich höre häufiger und lieber
zum beispiel einen schlager. aber ich würde niemals einen gassenhauer
als bedeutende musik hinstellen wollen und halte die beiden komponisten
für grosse künstler. will damit sagen: über geschmack lässt
sich nicht streiten. mir gefällt 'justiz'. der roman hat aber mit
grosser literatur nichts zu tun. vielleicht ausführlicher in einer
nächsten runde, wenn du lust hast, ich will meinen beitrag umfangmässig
auf deinen abstimmen. habe noch einiges über den roman im köcher
(die notizen!), schlechtes und aber auch, höre, gutes!
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Ein
"kollegialer disput" veranlasst mich, erneut meine spärlichen
und eigentlich längst dem Feuer übergebenen Notizen herauszukramen,
aus dem Hinterkopf zu holen, die Gedanken wiederum schweifen zu lassen,
kreisen zu lassen bis sie sich vereinigend gefunden haben auf dem vermeintlich
unscheinbaren Deckel des hier zum Thema erkorenen Buches. Noch immer sind
es "Die Astronauten", noch immer ist es Justiz.
Du, ja ich spreche dich nun geradewegs heraus an, du, der du weißt
um deine stets gelungene handwerkliche Auseinandersetzung mit konträren
Ansichten von philosophischem und literarischem Anspruch. Aber ich weiß
auch um meine. So kann ich nun von neuem beginnen, nun sei jeder dolchender
Rückzug obsolet. Lieber Daniel also.
Ich sprach von einer "poetischen Niederschrift" zu Beginn meiner
Antrittsrede. Doch man bemerkt bei genauerem Hinsehen, dass rund um dieses
Wort der Titel des Romans noch nicht gefallen ist. Denn nicht bloß
Justiz meinte ich mit meiner Poesie, sondern alle Texte, die sich nicht
mit Einkaufsangelegenheiten, Rechnungsausgleichungen, mathematische Formelkonstruktprobleme,
Unterschriften, Preisschilder, Kachelöfentypbenennungen und Waschgradangaben
beschäftigen. Also jene Texte, die sich bewusst sprachlich mit einer
Welt auseinandersetzen. Die "poetische Niederschrift" nährt
sich durch formale Bestrebungen, nicht durch urteilende. Ich halte Poesie
nicht "für höchste Sprachkunst" sondern für bewussten
Sprachumgang. Deiner Poesie entspricht das Wort Goethes, Nietzsches, Nizons,
Roths, Cendrars. Poesie also muss sich erst verdienen, muss erlangt werden
durch eine gewisse "irrationale, künstlerische Komponente".
Um mit deiner wertenden Definition zu sprechen, gebe ich dir Recht und schließe
mich deiner Ansicht an: Dürrenmatt strömt keine "Poesie"
aus. Wir reden aneinander vorbei.
Zum weiteren möchte ich kurz auf deine poetologischen Theorien eingehen.
"entscheidend für den rang eines dichters (...) ist alleine seine
sprache." Das stilistische und sprachliche Ausdrucksvermögen eines
Autors ist naturgemäß in der Literatur von immenser Bedeutung.
Immer wieder stolpert man als Leser über Dichter und deren Werke, dessen
Geschichten an sich völlig unerheblich erscheinen. Wenn aber nun die
Sprache, die diese Geschichten erfassen will, eine pointierte, gelungene,
herausragende ist, so neigt man dazu, an der hintangestellten Handlung hinwegzusehen.
Mir fallen an dieser Stelle die späten Werke Peter Handkes ein, etwa
Mein Jahr in der Niemandsbucht dessen innovative Sprache an ein literarisches
Wunder grenzt, dessen Ereignisse jedoch zweitrangig sind beziehungsweise
bedarf es einer immensen Schwierigkeit, ihnen handlungslogisch relevant
zu folgen. Doch gehe ich in all den Überlegungen nicht so weit zu behaupten,
die Handlung eines Romans wäre unerheblich. Denn du erklärst an
einer anderen Stelle, du würdest eine Geschichte unkritisch und unhinterfragt
hinnehmen und dich auf die Sprache, die diese Geschichte formt, konzentrieren.
Also welche Sprache entwirft die Geschichte. Und nicht welche Sprache entwirft
welche Geschichte. Es gebe genug Exempel, die Legitimität dieser Auffassung
ins Schwanken zu bringen. Ich denke an Witold Gombrowitz, dessen Roman Die
Besessenen von solcher Trivialität ist, dass es auf den ersten Blick
ein Fehler wäre, weitere Romane von diesem indessen großartigen
Schriftsteller zu lesen. Die Besessenen handelt von einem jungen Mann, der
ein Schloss besucht, um dort einige Zeit als Tennislehrer sein Geld zu verdienen.
Weitere Figuren sind eine junge Frau (beide verlieben sich mit diversen
vorhersehbaren Schwierigkeiten ineinander), ein halb eifersüchtiger
und halb geldversessener Verlobter, ein undurchdringliches Schloss, ein
wahnsinniger, kunstraubender Schlossbesitzer. Die Vorhersehbarkeit der Handlung
beschämt jeden geübten Leser und ist gleichzusetzen mit den massenhaft
erfolgreichen Heftchenromanen. Und doch schafft es Gombrowitz, eine eigenständige
und nicht uninteressante Sprache zu kreieren, die die Geduld am Roman nicht
schon in den ersten zehn Seiten platzen lässt (erst ab den fünfzigsten
Seiten). Aber es gibt auch umgekehrte Beispiele. Während die einen
auf einen sogenannten Nullpunkt in der Literatur der unmittelbaren deutschen
Nachkriegszeit bestanden, konnten die anderen nicht umhin, das Gräuel
und Elend der Kriegszeiten literarisch verzweifelnd zu behandeln. Einer
unter ihnen war Wolfgang Borchert mit seinem Stück Draußen
vor der Tür, das sprachlich in keinem Verhältnis zu seiner
inhaltlichen Aussagekraft steht. Ebenso wie Franz Innerhofers Schöne
Tage, dessen Subjektivität das grauenhafte Landleben in Österreich
der späteren Nachkriegszeit beleuchtet.
Im Übrigen: Ich erlebe Dürrenmatts Sprache nicht als konventionell,
zumindest nicht in Justiz. Seine überschätzten Kriminalromane
Der Richter und sein Henker, Der Pensionierte, Der Verdacht
sind über und über voll mit Unoriginalität, das Gerede ist
augenscheinlich abgekupfert von den amerikanischen hard-boiled-Krimis etwa
eines Dashiell Hammett. Justiz aber kann hausieren gehen mit Sätzen
wie diese: Er lachte in sich hinein, irgendetwas schien ihn ungemein
zu amüsieren, trank und fuhr fort, ob er je mir seine Lebensgeschichte
erzählt habe. Nein? Wozu auch. Schön. Er sei der Sohn eines Bergbauern,
und seine Familie nenne sich Stüssi-Leupin, um nicht mit den Stüssi-Bierlin
verwechselt zu werden, mit denen seine Familie seit Menschengedenken in
einem Streit um einen Kartoffelacker liege, der so steil sei, daß
sie ihn jedes Jahr wieder heraufbuckeln müßten, und das oft mehrere
Male, der, habe man Glück, die Kartoffeln für drei, vier Röstis
liefere, und dennoch werde um dessentwillen prozessiert, geprügelt
und gemordet. Noch jetzt. Kurz und gut, junger Kollege, nach seinem Studum
habe er sich gleich in seinem Heimatdorf als Rechtsanwalt angesiedelt, im
Stüssi-Dorf, wie es genannt werde, seien doch nicht nur die Stüssi-Leupin
mit den Stüssi-Bierlin, sondern auch die Stüssi-Moosi mit den
Stüssi-Sütterlin verfeindet und so die ganzen Stüssis hindurch,
doch das sei nur am Anfang gewesen, bei der Dorfgründung sozusagen,
wenn es so je eine gegeben habe, heute sei jede Stüssi-Familie mit
jeder anderen verkracht. Und in diesem Bergnest, Spät, in diesem Genist
von Familienzwist, Mord, Inzest, Meineid, Diebstahl, Unterschlagung und
Verleumdung habe er seine Lehrjahre als Bauernanwalt durchgemacht, als Fürsprecher,
wie dort die Leute sagen, nicht um die Justiz in dieses Tal einzuführen,
sondern um sie von ihm fernzuhalten, ein Bauer, der einen Unfall seiner
Alten vortäusche und seine Magd heirate, oder eine Bäuerin den
Knecht, nachdem sie ihren Alten mit Arsen auf den Friedhof gezaubert habe,
nützten auf ihren Höfen mehr als im Gefängnis. Leere Gefängnisse
kosteten den Statt weniger als volle, leere Bauernhöfe, und die Matten
verfilzten und die Heimaterde rutsche ins Tal. Hier wird keine Lyrik
gemacht, keine Poesie im konservativen Sinn. Diese von Dürrenmatt bewusst
verwendete Sprache verschmilzt perfekt mit der Handlung und ihrer Intention;
ein weiteres Indiz dafür, nicht die Geschichte zu vernachlässigen.
Du schreibst über "das menschliche klima", das im Kontext
Beiläufigkeit erfährt jedoch nichts "vertiefendes".
Literatur aber lebt von Lehrstellen, die die Leser auszufüllen verpflichtet
sind, lebt von Konnotationen, die nicht immer ausgesprochen werden können.
Dies ist das Spannende, zu dem unter anderem Literatur imstande ist. Es
gibt keine definitive Lesart, kein definitive Interpretation eines Werks.
Der Leser nimmt einen Text an und verbindet ihn mit seiner höchst subjektiven
Wirklichkeit. Somit entsteht eine Heterogenität, die die Vielzahl des
literarischen (Innen-)Lebens ausmacht. Wenn das "menschliche klima"
als menschliches Klima stehenbleibt, nichts hinzugefügt wird, um dem
Lesenden alle ihm offenstehenden Freiheiten und Gedankenmöglichkeiten
zu bieten, kann man nicht von Oberflächlichkeit sprechen. "enstzunehmender
diskurs" wäre hier völlig fehl am Platz, schlicht und einfach
nicht angebracht. Wir haben keinen Hegel vor uns, der uns jeden Schritt
in einer immensen Fülle von Sprachlichkeit enthüllt. Dürrenmatts
Absicht war es nicht, eine Abhandlung über "die entlarvung der
macht" zu geben; er wollte streifen, kokettieren, Ansätze anbieten.
Nichts weiter. Um einer solchen Abhandlung gerecht zu werden, bedarf es
Anderes. Um durch eine solche Abhandlung wissenschaftliche Befriedigung
zu erlangen, der greife zu Canettis Masse und Macht. Ich aber, der
in unserem Fall spannende und intelligente und sprachlich aufregende Literatur
lesen möchte, begnüge mich mit voller Selbstsicherheit Dürrenmatts
Justiz.
Deinen Kenntnissen Schweizer und Berner Geschichte betreffend kann ich nichts
entgegensetzen. Dazu bin ich zu viel Österreicher und zu wenig Landsmann.
Auf die Frage, ob Dürrenmatt nun ein "grosser gesellschaftskritiker"
in deinem Schweizer Sinne gewesen ist, kann ich nur mit einem schamvollen
Schulterzucken antworten.
In meinem Anfangstext schrieb ich: Behutsam schließe ich das Buch,
erblicke noch einmal die Zeichnung und reihe es schließlich wieder
ein in die großen Klugheiten unserer und vergangner Tage. Die
Klugheiten also richteten sich ganz sachlich gesprochen keineswegs auf Dürrenmatt.
Denn auch ich zähle Dürrenmatt nicht zu den "großen
Klugheiten unserer und vergangner Tage". Sehr wohl aber viele jener
Bücher, die ich in meinem Buchregal stehen habe. Leider, ja leider
kannst du es nicht sehen und also meine Euphorie nicht nachvollziehen. Stündest
du davor, lieber Daniel, wüsstest du, von was ich rede. Im Übrigen
könnte man auch nicht behaupten, Dürrenmatt sei einzureihen in
die "großen Dummheiten unserer und vergangner Tage". Und
ich nehme es entschieden nicht hin, das Wort "Nietzsche" zu einem
Vergleich heranziehend in einem einfachen Text über Dürrenmatt
zu verwenden, nicht zuletzt da die beiden Figuren außer dem Schreiben
nichts gemein haben. (Überdies halte ich Canettis Deutsch für
geschwätzig und behäbig, alles andere als "grossartig".)
Wie ich schon an anderer Stelle erwähnt habe, lobe ich auch hier erneut
die Qualität Dürrenmatts, Figuren lebendig zu machen, ihnen psychologisches
Einfühlungsvermögen und individuelle und im höchsten Maße
einfallsreiche Wiedererkennungsmomente zu schenken. Die Figuren sind alles
andere als "klischiert", wirken mehr wie Menschen als wie "tokkel".
In höchsten Grade Menschen, reale, wirkliche, an (fast) jeder (Schweizer)
Straßenecke erkennbar.
Neinnein, dieser Roman verdient nicht die schlechteste Absage. Natürlich,
im Vergleich mit den ganz Großen (obwohl auch diese hinterfragt gehören)
verblasst Dürrenmatt. Aber will ich mich keiner Undankbarkeit unterwerfen,
will nicht das Gefühl haben, ich hätte jemandem Unrecht erteilt
beim Aufschlagen hirnrissiger Bücher, deren Intentionen aus dem toten
Winkel der Relevanz erkennbar sind. Dieser jemand ist wohl Dürrenmatt.
Auch wenn dein Köcher noch brodelt. |
über das wort
poesie müssen wir uns also nicht weiter in die haare geraten -
gut.
die geschichte, die einer zu erzählen hat, und die sprache, die
er schreibt. dass ich nun jede geschichte unkritisch und unhinterfragt
hinnähme, wie du mich quasi zitierst, bezweifle ich. wo habe ich
das gesagt, geschrieben? ich erinnere mich, irgendwo geschrieben zu
haben, wenn die sprache herausragend sei, könne mir ein autor erzählen,
was er wolle. ein irrtum anzunehmen, man könne eine gute geschichte
erzählen ohne gute sprache. man kann auch kein gutes bild malen
ohne gut zu malen, was immer gegenstand des bildes sei. tema und sprache
sind eng miteinander verflochten. es ist natürlich ein unterschied,
ob einer eine fantastische geschichte schreibt, eine satire, ein märchen,
einen roman, oder ob er einen tatsachenbericht verfertigt. er wäre
aber ein trottel, dazu eine lyrische sprache zu verwenden. das wäre
geradezu schlecht und verlogen. die geschichte sei gut, aber die sprache
schlecht? dann kann die geschichte nur reiner information dienlich sein.
als literarisches produkt aber - weg damit! die sprache wäre gut,
aber leider die geschichte verfehlt, ohne belang, nicht der rede wert?
damit versperrt man sich den zugang zur kunst. es ist alles der rede
wert, es gibt keine unterschiede. dichtung stellt ein reiches beziehungsgeflecht
her. im kleinen oder im grossen, mikroskopisch oder makroskopisch. was
die welt nötig habe, ist eine politische, keine ästetische
frage.
wenn du also von einem trivialen roman schreibst, der aber sprachlich
interessant wäre, dann denk ich mir dazu, entweder kann der inhalt
nicht trivial sein oder die sprache ist es auch. mir kommt nichts vergleichbares
in den sinn. ich habe einigermassen übung darin, zivildienstgesuche
junger männer zu lesen, die ihre etischen, moralischen, religiösen
überzeugnungen darlegen. habe wohl einige tausend solcher gesuche
gelesen in all den jahren. ich spüre beim lesen, ob das alles echt
ist, was einer schreibt. da kann mich keine eleganz, keine eloquenz
darüber hinwegtäuschen. berühren kann nur das echte,
und das braucht nicht einmal herausragend formuliert zu sein. nur echt.
wenn also die geschichte trivial ist, erfährt sie keine vertiefung.
und das verschuldet ihre sprache. in einem solchen falle lässt
sich der betrug ohne weiteres aufdecken. ich stimme also mit deiner
ansicht nicht überein. soll ich 'die besessenen' von gombrowitz
lesen? unter der bedingung, du machst mit? mag sein, meine tese wäre
nicht zu halten. kann aber auch sein, dass ich eine andre meinung hätte
von seiner sprache. die wette gilt. du müsstest einfach mitziehen
und deinen standpunkt ausführlich darstellen. alleine unternehme
ich es nicht, einen roman aufzutreiben, dessen handlung du als trivial
charakterisierst.
weltbilder, erfahrungen, behauptungen sollen ins wanken kommen, in wien
und in bern. sonst kommt man nicht weiter im leben.
es darf natürlich auch innerhofer sein. das bedeutendste werk,
das ich von einem deutschsprachigen autor kenne, heisst 'fluss ohne
ufer', der dichter hans henny jahnn. 'die niederschrift des gustav anias
horn', teile zwei und drei der trilogie. 'das holzschiff', der prolog,
ist noch nicht von der qualität der 'niederschrift'. der 'epilog'
ist eine katastrofe, die kraft des dichters erschöpft. der roman
wurde in den jahren 1935-47 geschrieben, in skandinavien, wohin jahnn
flüchten musste. die 'niederschrift' beinhaltet gut 1500 engbedruckte
seiten, reinste, wahrste, hervorragendste dichtung, komposition, musik,
und rührt an alle menschheitsfragen. doch vom kriege, der tobte,
kein wort.
das 'menschliche klima': was ich von der stelle halte, habe ich gesagt.
ich nehme nichts zurück. so wie ichs schrieb, passts. doch gerade
beim versuch, dürrenmatts geschichte mehr abzugewinnen, als seine
sprache hergibt, habe ich den inhalt dieser und andrer passagen geprüft
und als oberflächlich bewertet. es hätte ja sein können,
ein oft ungelenker schreiber hätte wichtiges zu sagen gehabt. doch
wo er unsorgfältig am wort arbeitet, die sätze reiht, ergibt
sich eine plakative, hemdsärmlige, holzfällerhaft breitgeschlagene
geschichte, deren figuren nicht immer, aber zur hälfte, tokkelhaft
anmuten, klischiert, stereotyp. du zitierst von den stüssi-leupin,
-bierlin, -sütterlin, eine stelle, an der es wenig auszusetzen
gibt. sie ist anständig geschrieben, gewiss nicht schlecht, wenngleich
auch etwas oberflächlich, konventionell in wortwahl und satzbau,
wenig sinnlich und nicht berauschend. was ihm hier, und andernorts,
aber gelingt: es kommt viel auf wenig raum zusammen, fantasie und pointierte
darstellung, ich denke, dürrenmatt gibt zum besten, was er am besten
kann, nämlich analysieren.
also, ein einfacher, leicht konsumierbarer text, unterhaltsam und witzig.
keine grosse klugheit, temperierte eskapaden, originelle szenarien,
kein kitsch, kein quatsch, kein quark. ich wüsste nicht, dass ich
dem roman die 'schlechteste absage' erteilt hätte. eines der besten
bücher dürrenmatts, einverstanden. grandios, nein. verwegen
und gekonnt, was aufbau und durchführung der geschichte anbelangt,
den äusseren rahmen. kein grosser roman, wie du anfangs schriebst,
nein. ein lesenswerter schon. darin sind wir uns einig.
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