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schandfleck.ch_archiv/2000/nr.3
joachim ehrismann
 

rekruten und erwerbslose in fremden diensten teil 8: der maschinenmensch sieht seine pflanzenseele


die künstliche linse

vorsichtig fasste er mit daumen und zeigefinger die vom kontaktmittel glitschige linse am rand. dann hob er den kopf nach hinten, riss mit hilfe der finger der anderen hand weit das auge auf und führte die linse langsam mitten ins auge - bis sie sich an seiner hornhaut festsaugte. nach wenigen lidschlägen wich das verschommene, und seine materielle aussenwelt verschärfte sich mehr und mehr und verharrte schliesslich gestochen scharf - 120 prozent.

er ging zum kühlschrank und griff sich einen vitaminisierten jogurtdrink, den er rasch trank. er schaltete den computer vom standby in den aktiven modus. dieser fuhr mit leisem geräusch hoch. er hatte die personalisierte benutzeroberfläche ausgeschaltet - er hasste all diesen schnickschnack, lächelnde blondinen usw. - und liess sich nur mit einem schriftlichen guten tag begrüssen. sofort war der computer mit dem internet verbunden, und er hatte wieder dieses mulmige gefühl und den verdacht, er sei die ganze zeit mit dem netz verbunden gewesen, obwohl er doch die verbindung gestern abend getrennt hatte. vielleicht sollte man sicherheitshalber den stecker ziehen. im geschäft war ihm schon aufgefallen, wenn er überstunden machte, dass im computernetzwerk andauernd irgendwelche dioden und lichter blinkten, auch wenn gar niemand mehr arbeitete und nur noch der hauptcomputer lief, der natürlich auf keinen fall ausgeschaltet werden durfte - irgend etwas schien da vor sich zu gehen....

nachdem er seine emails kurz überflogen hatte - belanglose hallos, einige witzige bemerkungen und ein quiz von einem kollegen, der sich zur zeit in guatemala aufhielt -, schloss er seine einzimmerwohnung ab und fuhr mit dem lift zur garage hinunter. recht agressiv fuhr er ins stadtzentrum, aus seinen augenwinkeln konnte er einmal gerade noch erkennen, wie eine ältere fussgängerin sich panikartig vom streifen gerettet hatte. er nahm für kurze zeit den fuss etwas vom gaspedal und schaltete das autoradio ein - krrrschschschkrrrsch...nschen getö.... chschschchschh...opfern handelt es sich um fünf deutsche und einen italiener, die auf dem weg zur arbeit waren. laut angaben der düsseldorfer polizei gibt es zur stunde keine konkreten hinweise auf die täterschaft. es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass rechtsradika - klick - er drehte das radio wieder ab. gekankenlos fuhr er weiter. rot. er hasste diese signale, die immer zur falschen zeit auf rot sprangen. als es endlich grün wurde, liess er den motor etwas aufheulen. im rückspiegel sah er leichte rauchschwaden aufsteigen. er wollte nicht zu spät kommen und den tag schon in der defensive beginnen müssen. ausserdem hätte er gar nicht langsamer fahren können, da die anderen autos und überhaupt alle auf der strasse ebenfalls hetzten und drängten. er sah sich schon, wie er den frauen vom verkaufsinnendienst guten morgen sagen, in sein büro hinten rechts gehen, die mappe hinschmeissen und den computer starten würde. als nächstes würde er sich einen kaffee rauslassen, die neusten umsatzzahlen studieren und vielleicht ein paar worte mit einer mitarbeiterin wechseln. dann würde er sich wieder vor den computer setzen und sich den halben tag lang mit den immer ähnlichen tabellen und zahlen beschäftigen. dabei würde er sich immer wieder über die scheinbaren oder tatsächlichen fehlfunktionen des computers ärgern, die er nicht verstand. zwischendurch würde er angekommene emails herunterladen, die seinen absenden und einige telefonate erledigen.
er war schon auf dem nordring, als es ihm aushängte. er bog nicht links ab, wie er es hätte tun müssen, sondern fuhr geradeaus weiter, ging auf die autobahn, genoss es, beim beschleunigen den zug des motors zu spüren, und wechselte gleich auf die überholspur. er raste mit einem verächtlichen lächeln an all den anderen lahmen enten vorbei und entzifferte bereits die noch weit entfernte tafel der ausfahrt.

ganz am ende des feldweges schaltete er den motor ab, öffnete den kofferraum und nahm den metallkoffer heraus, der sich immer darin befand. mit metallischem klicken schnappte der verschluss auf. - im fadenkreuz des zielfernrohrs sah er sehr nah herangeholt, gestochen scharf - sein herz.

hunderttausend blumen

es wurde dunkel um ihn, er merkte, wie seine beine schwer wurden. er wurde langsam in einen goldenen teich getaucht. er versank in der zähflüssigen flüssigkeit und tauchte mit dem kopf unter die goldglänzende oberfläche. er befand sich jetzt tief in der höhle der erde. in schwarz-braunen, wabenartigen buchten grinsten lustig helle, comicartige erdgeisterchen, ein mäusewissenschafter im weissen kittel zeigte im hunderte und tausende von piepsenden mäusekühen, die massenweise in grossen käfigen eingesperrt waren. die gitter standen auf verschiedenen, riesigen etagen nebeneinander aufgereiht. danach ging es weiter hinab auf andere stockwerke. mit der bemerkung: "das sind jetzt die männchen, die mäuse vorhin sind alles weibchen gewesen", zeigte ihm der merkwürdige wissenschafter andere grosse käfige, in denen abertausende und abermillionen von insekten schwirrten. er hörte noch, wie die stimme sagte: "die werden wir dann auf die mäuse loslassen, später." dann wurde er von der energie emporgetragen aus der höhle, wurde leicht und unbeschwert, drängte zum licht. inmitten von wilden blüten und gräsern befand er sich in einer wiese. seine bewegungen verlangsamten sich mehr, und mehr bis er im jetzt verharrte. er sah nur noch feines wildes grünes, pflanzen, die im wind wogten und zum blauen himmel strebten, vergass, wer er war, woher er gekommen war, war nicht mehr sich selbst, war nur noch wiese, spürte nur noch dunkle erde, licht und blauen himmel.

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