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schandfleck.ch_textkritik/2005/dezember
daniel costantino
 

stümper und stilisten

kurzgeschichten und kurze erzählungen

> Die haben mir meine Beine geflickt und haben mir einen Posten gegeben, wo ich sitzen kann: ich zähle die Leute, die über die neue Brücke gehen. Es macht ihnen ja Spass, sich ihre Tüchtigkeit mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich an diesem sinnlosen Nichts aus ein paar Ziffern, und den ganzen Tag, den ganzen Tag, geht mein stummer Mund wie ein Uhrwerk, indem ich Nummer auf Nummer häufe, um ihnen abends einen Triumph der Zahl zu schenken. Ihre Gesichter strahlen, wenn ich ihnen das Ergebnis meiner Schicht mitteile, je höher die Zahl, umso mehr strahlen sie, und sie haben Grund, sich befriedigt ins Bett zu legen, denn viele Tausende gehen täglich über ihre neue Brücke...<

der autor dieser zeilen hat einmal behauptet, die moderne kurzgeschichte, die 'story', sei die neue literaturform des 20. jahrhunderts, und das 20. jahrhundert das des mannes von der strasse, der sowohl die form und das vokabularium bestimme, welches die 'story' beherrsche. das vokabularium wiederum sei das 'gesprochene wort', welches mehr poesie beinhalte als die reine schriftsprache noch für uns habe, die verschmutzt sei, verschlissen.
doch schon eine seiner berühmtesten kurzgeschichten, 'an der brücke', 1949 entstanden, hat keinen poetischen gehalt, und vom 'vokabularium des kleinen mannes' ist wenig zu spüren: 'ihre tüchtigkeit mit zahlen belegen', 'sie berauschen sich an diesem sinnlosen nichts aus ein paar ziffern' - spricht so der kleine mann, ist das typisch für sein 'vokabularium', handelt es sich da um poesie? auch weiter unten, wenn es heisst: 'obwohl ich es verstehe, den eindruck von biederkeit zu erwecken', wo der autor schreibt, 'wenn mein herz aufschlägt, wenn ich froh bin, lasse ich meine grosszügigkeit in einer fünfstelligen zahl verströmen. sie sind ja so glücklich!'?
auf engstem raum technokratendeutsch, eine luftblase, eine gestelzte wendung und, der letzte satz, purer schwachsinn.
von tiefrem bewusstsein zeugt hier nichts, die empfindungen der figuren wirken klischiert, gekünstelt, aufgesetzt, etwa wo steht: 'wenn meine kleine geliebte kommt, dann bleibt mein herz einfach stehen', 'dann setzt mein herz wieder aus', 'das unermüdliche ticken meines herzens setzt einfach aus', oder wenn er schreibt: 'es ist klar, dass ich sie liebe' und gleich darauf wieder 'ahnungslos und unschuldig soll sie mit ihren langen braunen haaren und den zarten füssen in die eisdiele marschieren, und sie soll viel trinkgeld bekommen. ich liebe sie. es ist ganz klar, dass ich sie liebe.' die wiederholungen, nicht gerade geistreich, karikieren eher die beschränktheit eines trottels als dass sie typisch für den mann von der strasse wären. liest man böll kritisch, kommt einem schon seine definition der 'story', die vom 'vokabularium des mannes von der strasse' beherrscht werde, so vor, als sammle da ein professor schmetterlinge für den biologieunterricht.

hier und andernorts keine echte empfindung, weil heinrich bölls sprache keinerlei stilistischer, schöpferischer gehalt zu eigen ist. die bezeichnung poesie setzte doch ein mindestmass an sprachkunst, einprägsamkeit, ein überdurchschnittliches sprachgefühl voraus.
kurz zusammengefasst, die geschichte selbst findet auf eineinhalb seiten platz, zählt ein heimkehrer, ein kriegsversehrter die zahl der leute, welche die brücke passieren, und hat darüber seinen vorgesetzten rechenschaft abzuliefern. in eine passantin, die täglich zweimal vorbeikommt, hat er sich verliebt. die pointe läuft darauf hinaus, dass böll seine ichfigur die geliebte nicht mitzählen lässt, auch nicht, als er kontrolliert wird, weil sie 'nicht multipliziert und dividiert und in ein prozentuales nichts verwandelt werden' soll. es gelingt böll aber nicht, meine anteilnahme zu wecken, auch spannung, die er selbst für unabdingbar erachtet, will sich nicht einstellen. der text hat nichts kompaktes an sich, geschweige einen stimmungsaufbau, überhaupt stimmung, klang, präzision. klar, man will wissen, worauf das ganze hinauslaufen soll, aber eher aus sportlichem denn literarischem interesse. böll hat nicht einmal das zeug, eine so kurze geschichte recht durchzudenken. der held 'möchte nicht, dass sie es erfährt', nämlich dass er sie verehrt. aber ohne weiteren zusammenhang, ohne innere wandlung der figur heisst es am schluss, 'ich könnte sie mir lange anschauen oder sie vielleicht ein stück nach hause bringen, meine kleine ungezählte geliebte.' und dabei will er nicht, dass sie es erfährt? ohne dass der autor mich am innern erleben seiner figur teilhaben lässt, wirkt der schluss stereotyp. er könnte irgendwas andres hinschreiben dort, es kann mich nicht interessieren, weil ich keine verwandlung, verzauberung zu spüren vermag. ich könnts höchstens intellektuell so einordnen, wies gemeint wär, aber dafür ist mir bölls futter zu magere kost. geradezu lächerlich abgedroschen, nein, herbeigelogen die stelle, wo unserm helden das 'herz blutet', weil er unter aufsicht weiterzählen muss und ihr nicht nachschauen kann. das hat nun gewiss nichts mit grosser heimkehrerliteratur zu tun, sondern ist kitschige und unglaubwürdige sentimentalität. böll selbst schreibt verschlissen, und seine behauptung, die reine schriftsprache sei verschmutzt, klingt in der konfrontation mit seinen texten eher nach einer damals marktfördernden leerformel des schlages 'nach auschwitz keine gedichte mehr', weniger aber danach, als hätte er eine ahnung gehabt, wovon er überhaupt gesprochen.
"nicht nur paradebeispiel für eine fruchtbare aufarbeitung der vergangenheit, sondern auch für bölls auffassung der kurzgeschichte (die anteilnahme sofort herbeigeführt und der leser veranlasst weiterzulesen; dc) als einer literarischen form, die 'alle elemente der zeit' enthalte: 'ewigkeit, augenblick, jahrhundert.'" - so lautet die im jahre 2004 publizierte kritik (samt bölls zitat) des englischen literaturwissenschaftlers j.h. reid. doch diesem patetischen (eigen)lob entspricht redlicherweise nichts in bölls texten, die jedes dichterischen funkens entbehren, eines akzeptablen geistig-intellektuellen aufwands auch, manches wirkt nicht nur hölzern, sprachlich unzulänglich, erschreckend schlecht geschrieben, sondern geradezu dümmlich. die geschichte 'wanderer, kommst du nach spa...', als vorzeige-satire durch die jahrzehnte schulischen unterrichts gereicht, bis zum heutigen tage, hält weder dem kriterium der satire überhaupt noch einer andern literarischen zuordnung stand. ohne geringste reibfläche von spott und idealer position, ohne spürbare spannung zwischen missstand und anklage, ja, ohne anklage überhaupt in dieser story sehe ich keinen grund, ihr kämpferische auseinandersetzung zuzuschreiben, noch eine andere form aufklärerischen willens. seht her, die trottel! das kann jeder machen. noch das scheint aber zweifelhaft, sätze wie: 'die artillerie schoss ruhig und regelmässig, und ich dachte: gute artillerie! ich weiss, das ist gemein, aber ich dachte es. wie beruhigend war die artillerie, wie gemütlich: dunkel und rauh, ein sanftes, fast feines orgeln. irgendwie vornehm', von einem schwerstverwundeten gedacht, lesen sich im gesamtzusammenhang des textes nicht satirisch, sondern zynisch gegen das kriegsleid und gegen die opfer gerichtet. konzidiert, dass heinrich böll sich politisch gegen kriegstreiberei und aufrüstung engagiert hatte, gibt es doch in seinem werk manchen beleg, dass er das verbrechen des kriegs, die unvorstellbaren greuel und das menschliche elend verklärt statt anprangert.
neben dem oben zitierten satz liest man in der kurzen geschichte ausserdem stellen wie: 'und dort, in diesem schmalen kleinen gang, wo ich endlich wieder für ein paar schritte gerade auf meiner bahre lag, da war das besonders schöne, besonders grosse, besonders bunte bild des alten fritzen mit der himmelblauen uniform, den strahlenden augen und dem grossen, golden glänzenden stern auf der brust.' und: '...wieder lag ich für ein paar schritte gerade auf meiner bahre, und bevor die träger in die zweite treppe hineinschwenkten, sah ich es noch eben: das kriegerdenkmal mit dem grossen, goldenen eisernen kreuz obendrauf und dem steinernen lorbeerkranz.' und auch: 'aber da war es schon: das bild von togo: bunt und gross, flach wie ein alter stich, ein prachtvoller druck, und vorne, vor den kolonialhäusern, vor den negern und dem soldaten, der da sinnlos mit seinem gewehr herumstand, vor allem war das grosse, ganz naturgetreu abgebildete bündel bananen: links ein bündel, rechts ein bündel, und auf der mittleren banane im rechten bündel, da war etwas hingekritzelt, ich sah es, ich selbst muss es hingeschrieben haben...' ewigkeit, augenblick, jahrhundert! ein bisschen sinnlos steht da ein deutscher soldat im togo herum. echte satire, was? was er dort wohl gesucht hat? die elemente der zeit halt eben! von der stupenden sprachlichen brillanz mal abgesehen.
aber, um auf mein hauptanliegen zurückzukommen: bölls geschichten weisen ihn nicht als einen grossen seines fachs aus, schon gar nicht als einen, 'dessen herz voll ist von einer schwermütigen lyrik und von einer unendlichen trauer' (zitat böll), weil eine seelische auseinandersetzung vollkommen fehlt, weil nirgends eine echte gefühlsregung spürbar ist in diesen texten, weil seine sprache formelhaft, linkisch-imitatorisch, voller allerweltsgedanken daherkommt - so etwa wird nicht ironisierend, wie von kritikern behauptet, die humanistische büste cäsars gegen die inhumanen bilder der nazi-rassenlehre, sondern, logischerweise, die eine kriegsgurgelideologie über die andere gestellt. es kann nicht aufklärerisch wirken, die symbolkraft von ciceros namen einzuwerfen, ohne aufzuzeigen, und wäre es in ironischer verdrehung, wie und ob des mannes retorik etwa der menschlichkeit verpflichtet gewesen wäre. die alten römer immer gut, auch ihre kriege? hier banales verbrechen, dort edle taten? ach nee.
nicht zuletzt ist heinrich böll frei vom bestreben, seine sprache zu einem künstlerischen werkzeug zu entwickeln. kein anlass also, ihn zu überschätzen.

ganz anders erich kästner. faszinierende palette sprachlichen ausdrucks, echte empfindung, autentisches sentiment, gewandt, ungewöhnlich vielseitig. er ist ein meister des tons, ein blendender satiriker und ein unpatetischer melancholiker.
wenn einer die sprache des kleinen mannes beherrscht, dann er. dabei hat er es nicht nötig, sich dauernd zu wiederholen und die wortwahl auf ein minimum einzuschränken. er erreicht im gegenteil mit einer detaillierten und autentischen ausdruckspalette anschaulichkeit und, verbunden mit ehrlicher gedanklicher und analytischer arbeit, seelischen tiefgang und die anteilnahme des lesers. schaumschlägereien, eigenes patos und geschraubte wendungen sind ihm unbekannt. es kann in keiner zeile unklarheit herrschen über die haltung des autors zum persiflierten gegenstand. die pointen stechen, der witz trifft, und unscheinbar, wie nebenbei, wächst ein zartes pflänzchen poesie am wegrand.
die geschichte 'paula vorm haus' handelt von einem mädchen, dem statt der füsse wurzeln gewachsen sind, und das deshalb sein leben wie ein baum draussen im garten verbringen muss. natürlich stürzt sich die presse auf die sensation, und allerhand unternehmerisches gesindel bietet paulas eltern viel geld, die tochter im zirkus auszustellen und dergleichen. die aber widerstehen den verlockendsten angeboten, nur ab und zu geben sie geringfügigeren versuchungen nach. das mädchen im garten muss sich dann werbeplakate vor seiner nase gefallen lassen, wird für marmelade, regenmäntel und anderes zur schau gestellt. schlechten gewissens besorgen ihr die eltern mit den einnahmen die beste pflanzenerde, die sie auftreiben können. als beleg für kästners eingängigen stil wie auch für die zarte poesie in vielen seiner texte sei der schluss dieser kleinen geschichte zitiert. paula ist siebzehnjährig geworden. es hat sich zwischen ihr und einem passanten ein kleines, aber aussichtsloses liebesverhältnis aus der ferne angebahnt. die eltern werfen einen blick zum fenster hinaus auf ihre tochter im garten:

> Als sie ans Fenster traten, ging gerade Dr. Meier vorüber, der neue Assesor beim Amtsgericht. Er zog vor dem Mädchen den Hut und lächelte melancholisch. Paula warf die Hände hoch. Einen Augenblick lang schien es, als wolle sie ihm nacheilen. Sie bewegte sich wie ein Blatt im Winde, das der Zweig nicht loslässt. Dann sanken die Arme herab. Reglos stand sie zwischen den Tannen und Büschen. Und versuchte zu lächeln. Und die Eltern traten ins Zimmer zurück. >

man vergleiche diese sprache einmal mit jener bölls: 'wenn meine kleine geliebte über die brücke kommt - und sie kommt zweimal am tage -, dann bleibt mein herz einfach stehen. das unermüdliche ticken meines herzens setzt einfach aus, bis sie in die allee eingebogen und verschwunden ist'; 'wenn sie auf der anderen seite des gehsteigs meinen stummen mund passiert, der zählen, zählen muss, dann setzt mein herz wieder aus, und ich fange erst wieder an zu zählen, wenn sie nicht mehr zu sehen ist... '; es gilt keine herausrederei, die geschilderte situation noch ist eins zu eins vergleichbar: unglückliche liebe aus der ferne. was bei kästner echte empfindung, missrät böll zur blossen deklamation. beide schrieben sie für den kleinen mann, beide explizit. dem einen glaubt mans aufs wort, über den andern kann man nur lachen.

> Er hatte eine Bretterwand gebaut. Die Bretterwand entfernte die Fabrik aus seinem häuslichen Blickkreis. Er hasste die Fabrik. Er hasste die Maschine, an der er arbeitete. Er hasste das Tempo der Maschine, das er selber beschleunigte. Er hasste die Hetze nach Akkordprämien, durch welche er es zu einigem Wohlstand, zu Haus und Gärtchen gebracht hatte. Er hasste seine Frau, so oft sie ihm sagte, heut nacht hast du wieder gezuckt. Er hasste sie, bis sie es nicht mehr erwähnte. Aber die Hände zuckten weiter im Schlaf, zuckten im schnellen Stakkato der Arbeit. Er hasste den Arzt, der ihm sagte, Sie müssen sich schonen, Akkord ist nichts mehr für Sie. Er hasste den Meister...<

eine kritikerin begreift diesen anfang in kurt martis geschichte 'neapel sehen' als 'ein eigentliches staccato des hasses, was in der ersten hälfte die lesenden überfällt, ein harter rytmus, in dem die auflehnung - eine hilflose, eine verzweifelte auflehnung - des protagonisten ausbricht; auflehnung gegen die zumutungen der arbeit, die in sein innerstes dringt, noch in seinen schlaf.'
staccato? harter rytmus? überhaupt rytmus? die dame braucht nachhilfe in den begriffen hebungen und senkungen. die spechakzente des texts ergeben sich rein zufällig, holprig, sowieso, und keineswegs als vom autor gestaltet. überfallen kann da garnichts heissen. die wiederholungen, gewiss als stilisierendes, retorisches mittel in der literatur verwendbar, langweilen doch spätestens ab dem dritten mal. von staccato keine spur. der begriff wird ihr eingefallen sein, weil marti ihn hier verwendet. und dreimal zucken sagt mir auch nichts mehr als einmal zucken. als wäre ich leser ein hund, dem man einen knochen zuwirft. wenn du fleisch willst, wickle es selber drum! rein dokumentarische arbeit der text. blosse behauptung, nicht einmal gelungene schilderung. irgendwie gutgemeint, aber nicht über dem sprachlichen niveau eines schüleraufsatzes. apropos gutgemeint: zum tema lese und verbreite man die autentischen schilderungen günter wallraffs. nicht als beispiel literarischer, aber aufklärerischer qualität. was der schweizer pfarrer zu sagen hat, ist viel zu wenig.
'er lag im bett und blickte zum fenster hinaus. er sah sein gärtchen. er sah den abschluss des gärtchens, die bretterwand. weiter sah er nichts. die fabrik sah er nicht...' das ist nicht darstellung der langeweile, das ist langweilige sprache, man kompromittiert sich ja, das unter literatur zu besprechen. nicht so die kritikerin: 'in der ersten hälfte des textes ist es das verb 'hassen' (es wird neunmal, ziemlich auffallend, an den anfang des satzes gesetzt), in der zweiten hälfte dann tritt das verb 'sehen', unauffälliger, aber stärker, mächtiger, ihm entgegen: elfmal, aber unregelmässiger genannt, bricht es den text gleichsam von innen auf.'
das veterinärprinzip zur tilgung guten deutschs: viel hilft viel. nicht einmal fünfzig zeilen umfasst martis kurzgeschichte. seine völlige dichterische impotenz, seine stupiden und ungelenken wortwiederholungen auch noch zu rühmen, sie sogar einem jugendlichen publikum zum lesen zu empfehlen, ist ein zu starkes stück. denken die bildungsexperten und kulturpolitiker an solche vorbilder, wenn sie der bildung als hohem gut das wort sprechen? es scheint so. böll und marti zirkulieren in denselben antologien für die mittelschulen, kästner aber notabene nicht. den muss man sich selbst zusammensuchen. allons!

ihres dichterischen und symbolischen gehalts wegen nehmen die kurzgeschichten der marie luise kaschnitz eine hohe stellung ein in der bewertung deutscher kurzprosa des 20. jahrhunderts. ihre präsenz als vertreterin der kriegsgenerationen im heutigen schulstoff geht völlig in ordnung, allerdings fast nur ihre alleine. es mag daran liegen, dass einige hervorragende schriftsteller dieser zeit mit ihren texten auch heute noch anecken könnten, dass vieles, was gerade kästner schrieb, auch heute nicht zum guten, ausgewogenen, ja nicht zu kritischen politischen ton gehörte, zu ätzend die missstände in gesellschaft und politik noch postum und auf aktuelles bezogen anprangerte. die kaschnitz ist da natürlich unverfänglicher, geradezu unpolitisch, was ihr gutes recht ist: die qualität einer sprache, einer dichtung kann nicht daran gemessen werden, welchem gegenstande sie sich zuwendet.
kaschnitz' sprache: unauffällig, ordentlich auf den ersten blick. keine nennenswerten schlampereien, keine virtuosität, fast unscheinbar. aber man gerät in einen sog, einen zauber, der kaum noch loslässt. sie baut ihre geschichten häufig so, dass man tief und tiefer in sie versinkt, sich in einer dichten atmosfäre wiederfindet. da und dort brillanz, als schiene die sonne plötzlich über stillem wasser auf, erleuchtung, tiefe und tiefempfundene wahrheit, in typischer und schlichter weise zu papier gebracht, wie ich es von niemand anderm gelesen habe. eine dichterin, ganz sprachlicher sorgfalt und aufrichtiger anteilnahme verpflichtet. ihre augen sehen klar, ihr gemüt kennt beklemmung, furcht, protest, herzlichkeit und sorge. 1973 erschien ihr buch 'orte', aufzeichnungen aus ihrem leben, miniaturen, impressionen, reflexionen. realistische darstellung, erinnerung, träumerische vision, zeitgeschichtliche begebenheit, ahnung und fantasie, ausblick und einkehr - ein wunderbares buch, geheimnisvoll verwobenes geschick, das leben selbst.

> Oder Orte, nie gesehene, zum Beispiel Stockholm oder Aden am roten Meer oder Samarkand. Man hat da keine Erinnerung und doch etwas vor Augen, in Aden zum Beispiel lauter Öltürme, Ölschiffe, Asphalt in furchtbarer Hitze schmelzend, Wüstenhügel, aber nichts vom malerischen Orient, und die Fremdenschiffe, die Vergnügungsschiffe, fahren alle vorbei. Ich sehe mich da, wie ich in einem traurigen heissen Büro Zahlen schreibe, endlose Kolonnen, oder an einem Blechtischchen sitze und trinke, und die Stunden, die Tage, die Wochen wollen nicht vergehen. Wie ich dorthin gekommen bin, wie ich überhaupt zu diesem Beruf und diesem einsamen verzweifelten Trinken gekommen bin, weiss ich nicht. Auch in andern mir unbekannten Städten führe ich fremde seltsame Existenzen, von denen ich nicht loskommen kann. Mehrere Male ist es geschehen, dass ich diese unbekannten Orte im Laufe der Zeit doch noch kennengelernt habe. Es haben danach für mich immer zwei Bilder, das der Wirklichkeit und das der Vorstellung, nebeneinander bestanden und sich niemals vermischt. <

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