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schandfleck.ch_textkritik/2007/november
daniel costantino
 

pascal mercier: nachtzug nach lissabon

pascal mercier: nachtzug nach lissabon

es ist nicht so, dass jedes tiefe wort ein dichterisches wäre, aller proportionierter satzbau musik. dass man aber mercier konsumieren könnte wie irgendeinen und dass ein leser ohne eignes zutun allzu flotte fahrt gewänne. so ist es nicht.
grosse gabe des autors, anspruchsvolle, angewandte filosofie unters volk zu bringen. das vermögen sprachlicher zuspitzung und verdichtung. die ader, eine spannende handlung aus dem nichts zu entwickeln, gänzlich frei von dilettierender action und ohne modisch thrillerndes zubehör. weltfremden charakteren das los der menschheit zu bescheren. verlebendigung innerer vorgänge, die figuren und personen entwickeln sich und sind nicht mehr dieselben am schluss. ein generöser erzähler, suchender, strebender, rastloser geist. das niveau sprachlicher pflege, die humoristischen einschübe, die fantasievollen und grossherzigen aperçus, zuvorderst aber die durch und durch existentialistische grundströmung und die planvolle zuspitzung des menschlichen dilemmas machen den roman zu einem einzigartigen vergnügen. es hat kaum einen berner gegeben, der soviel kann wie pascal mercier.
also frisch gewagt und eingekauft. das buch ist eine perle.
die beiden hauptfiguren, ein schrulliger, sitzlederner berner altfilologe und ein imaginärer, seit dreissig jahren toter portugiesischer dichter. ganz im sinne meiner allgemeinen bestrebung, die sprache zum massstab der qualität zu machen, verzichte ich auf bündige zusammenfassung der handlung. wer dies liest, hat internet. wer das hat, findet zahllose belege. jetzt kommen zitate, kommt sprachfutter, anschauungsmaterial. mercier unplugged, und alles seinem toten portugiesischen dichter in den mund gelegt.

interview mit amadeu inácio de almeida prado, dichter und goldschmied der worte

costantino:
senhor prado, angenommen, sie würden heute noch leben: was würden sie sich wünschen?

prado:
palavras num silencio de ouro. worte in goldener stille. wenn ich zeitung lese, radio höre oder im café darauf achte, was die leute sagen, empfinde ich immer öfter überdruss, ja ekel ob der immergleichen worte, die geschrieben und gesprochen werden - ob der immer gleichen wendungen, floskeln und metafern. und am schlimmsten ist es, wenn ich mir selbst zuhöre und feststellen muss, dass auch ich die ewig gleichen dinge sage. sie sind so schrecklich verbraucht und verwohnt, diese worte, abgenutzt von millionenfacher verwendung. haben sie überhaupt noch eine bedeutung? natürlich, der austausch der wörter funktioniert, die leute handeln danach, sie lachen und weinen, sie gehen nach links oder rechts, der kellner bringt den kaffee oder tee. doch das ist es nicht, was ich fragen will. die frage ist: sind sie noch ausdruck von gedanken? oder nur wirkungsvolle lautgebilde, welche die menschen dahin und dorthin treiben, weil die eingravierten spuren des geplappers unablässig aufleuchten?

costantino:
in unserer mediengesellschaft eine träumerische vorstellung...

prado:
das wichtigste wäre, dass die menschen über ihre gedanken selbst bestimmen könnten. dass sie mehr über sich herausfinden möchten. nur in dem masse, in dem wir etwas über uns wissen, können wir unsere selbstbestimmung vergrössern. deshalb nenne ich die grossen boulevardmedien ein verbrechen. mit grossen lettern und suggestiven bildern bombardieren und überschwemmen sie uns, arbeiten gegen die sensibilität, die reflexion, die selbsterkenntnis. sie zerstören einfach unsere kultur.

costantino:
immer mehr menschen suchen zuflucht in den 'alten werten', in den religiösen traditionen. ein gangbarer weg aus dem schlamassel?

prado:
wie sollen wir glücklich sein ohne neugierde, ohne fragen, zweifel und argumente? ein religiöses leben führen bedeutet nichts weniger als die forderung, unser fühlen und tun gegen unser denken zu leben, es ist die aufforderung zu einer umfassenden gespaltenheit, der befehl, gerade das zu opfern, was der kern eines jeden glücks ist: die innere einheit und stimmigekit unseres lebens. der sklave auf der galeere, er ist gekettet, aber er kann denken, was er will. doch was gott von uns verlangt, ist, dass wir unsere versklavung eigenhändig in unsere tiefsten tiefen hineintreiben und es auch noch freiwillig und mit freuden tun. kann es eine grössere verhöhnung geben?

costantino:
wäre die selbsterziehung zum gleichmut anzuraten? wie schön wäre die welt ohne die erfahrung des ärgers!

prado:
bewahre! wir möchten doch nicht seelenlose wesen sein, die ganz und gar unangefochten bleiben durch das, was ihnen begegnet, wesen, deren bewertungen sich in kühlen, blutleeren urteilen erschöpften, ohne dass etwas sie aufzuwühlen vermöchte, weil nichts sie wirklich kümmerte. andrerseits haben sie recht: wenn die anderen uns dazu bringen, dass wir uns über sie ärgern - über ihre dreistigkeit, ungerechtigkeit, rücksichtslosigkeit -, dann üben sie macht über uns aus, sie wuchern und fressen sich in unsere seele, denn der ärger ist wie ein glühendes gift, das alle milden, noblen und ausgewogenen empfindungen zersetzt und uns den schlaf raubt. schlaflos machen wir licht und ärgern uns über den ärger, der sich eingenistet hat wie ein schmarotzender schädling, der uns aussaugt und entkräftet. wir sind nicht nur wütend über den schaden, sondern auch darüber, dass er sich ganz allein in uns entfaltet, denn während wir mit schmerzenden schläfen auf dem bettrand sitzen, bleibt der ferne urheber unberührt von der zersetzenden kraft des ärgers, deren opfer wir sind. auf der menschenleeren inneren bühne, in das grelle licht stummer wut getaucht, führen wir ganz allein für uns selbst ein drama auf mit schattenhaften figuren und schattenhaften worten, die wir schattenhaften feinden entgegenschleudern in hilflosem zorn, den wir als eisig loderndes feuer in unserm gedärm spüren. und je grösser unsere verzweiflung darüber ist, dass es nur ein schattenspiel ist und keine wirkliche auseinandersetzung, in der es die möglichkeit gäbe, dem andern zu schaden und ein gleichgewicht des leids herzustellen, desto wilder tanzen die giftigen schatten und verfolgen uns bis in unsere träume. wir werden den spiess umdrehen, denken wir grimmig, und schmieden nächtelang worte, die im anderen die wirkung einer brandbombe entfalten werden, so dass nun er es sein wird, in dem die flammen der empörung wüten, während wir, durch schadenfreude besänftigt, in heiterer ruhe unseren kaffee trinken.

costantino:
senhor prado, die zeit eilt, daher eine letzte frage, eine frage, die mich seit jahren umtreibt: was ist kitsch?

prado:
kitsch ist das tückischste aller gefängnisse. die gitterstäbe sind mit dem gold vereinfachter, unwirklicher gefühle verkleidet, so dass man sie für die säulen eines palastes hält. aber lassen sie mich noch folgendes sagen, junger mensch, der sie von der krankheit angesteckt scheinen, zuwenig zeit zu haben: es ist ein fehler, ein unsinniger gewaltakt, wenn wir uns auf das hier und jetzt konzentrieren in der überzeugung, damit das wesentliche zu erfassen. worauf es ankäme, wäre, sich sicher und gelassen, mit dem angemessenen humor und der angemessenen melancholie, in der zeitlich und räumlich ausgebreiteten inneren landschaft zu bewegen, die wir sind.

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