pascal mercier:
nachtzug nach lissabon
es ist nicht so,
dass jedes tiefe wort ein dichterisches wäre, aller proportionierter
satzbau musik. dass man aber mercier konsumieren könnte wie irgendeinen
und dass ein leser ohne eignes zutun allzu flotte fahrt gewänne.
so ist es nicht.
grosse gabe des autors, anspruchsvolle, angewandte filosofie unters
volk zu bringen. das vermögen sprachlicher zuspitzung und verdichtung.
die ader, eine spannende handlung aus dem nichts zu entwickeln, gänzlich
frei von dilettierender action und ohne modisch thrillerndes zubehör.
weltfremden charakteren das los der menschheit zu bescheren. verlebendigung
innerer vorgänge, die figuren und personen entwickeln sich und
sind nicht mehr dieselben am schluss. ein generöser erzähler,
suchender, strebender, rastloser geist. das niveau sprachlicher pflege,
die humoristischen einschübe, die fantasievollen und grossherzigen
aperçus, zuvorderst aber die durch und durch existentialistische
grundströmung und die planvolle zuspitzung des menschlichen dilemmas
machen den roman zu einem einzigartigen vergnügen. es hat kaum
einen berner gegeben, der soviel kann wie pascal mercier.
also frisch gewagt und eingekauft. das buch ist eine perle.
die beiden hauptfiguren, ein schrulliger, sitzlederner berner altfilologe
und ein imaginärer, seit dreissig jahren toter portugiesischer
dichter. ganz im sinne meiner allgemeinen bestrebung, die sprache zum
massstab der qualität zu machen, verzichte ich auf bündige
zusammenfassung der handlung. wer dies liest, hat internet. wer das
hat, findet zahllose belege. jetzt kommen zitate, kommt sprachfutter,
anschauungsmaterial. mercier unplugged, und alles seinem toten portugiesischen
dichter in den mund gelegt.
interview
mit amadeu inácio de almeida prado, dichter und goldschmied der
worte
costantino:
senhor prado, angenommen, sie würden heute noch leben: was würden
sie sich wünschen?
prado:
palavras num silencio de ouro. worte in goldener stille. wenn ich zeitung
lese, radio höre oder im café darauf achte, was die leute
sagen, empfinde ich immer öfter überdruss, ja ekel ob der
immergleichen worte, die geschrieben und gesprochen werden - ob der
immer gleichen wendungen, floskeln und metafern. und am schlimmsten
ist es, wenn ich mir selbst zuhöre und feststellen muss, dass auch
ich die ewig gleichen dinge sage. sie sind so schrecklich verbraucht
und verwohnt, diese worte, abgenutzt von millionenfacher verwendung.
haben sie überhaupt noch eine bedeutung? natürlich, der austausch
der wörter funktioniert, die leute handeln danach, sie lachen und
weinen, sie gehen nach links oder rechts, der kellner bringt den kaffee
oder tee. doch das ist es nicht, was ich fragen will. die frage ist:
sind sie noch ausdruck von gedanken? oder nur wirkungsvolle lautgebilde,
welche die menschen dahin und dorthin treiben, weil die eingravierten
spuren des geplappers unablässig aufleuchten?
costantino:
in unserer mediengesellschaft eine träumerische vorstellung...
prado:
das wichtigste wäre, dass die menschen über ihre gedanken
selbst bestimmen könnten. dass sie mehr über sich herausfinden
möchten. nur in dem masse, in dem wir etwas über uns wissen,
können wir unsere selbstbestimmung vergrössern. deshalb nenne
ich die grossen boulevardmedien ein verbrechen. mit grossen lettern
und suggestiven bildern bombardieren und überschwemmen sie uns,
arbeiten gegen die sensibilität, die reflexion, die selbsterkenntnis.
sie zerstören einfach unsere kultur.
costantino:
immer mehr menschen suchen zuflucht in den 'alten werten', in den religiösen
traditionen. ein gangbarer weg aus dem schlamassel?
prado:
wie sollen wir glücklich sein ohne neugierde, ohne fragen, zweifel
und argumente? ein religiöses leben führen bedeutet nichts
weniger als die forderung, unser fühlen und tun gegen unser denken
zu leben, es ist die aufforderung zu einer umfassenden gespaltenheit,
der befehl, gerade das zu opfern, was der kern eines jeden glücks
ist: die innere einheit und stimmigekit unseres lebens. der sklave auf
der galeere, er ist gekettet, aber er kann denken, was er will. doch
was gott von uns verlangt, ist, dass wir unsere versklavung eigenhändig
in unsere tiefsten tiefen hineintreiben und es auch noch freiwillig
und mit freuden tun. kann es eine grössere verhöhnung geben?
costantino:
wäre die selbsterziehung zum gleichmut anzuraten? wie schön
wäre die welt ohne die erfahrung des ärgers!
prado:
bewahre! wir möchten doch nicht seelenlose wesen sein, die ganz
und gar unangefochten bleiben durch das, was ihnen begegnet, wesen,
deren bewertungen sich in kühlen, blutleeren urteilen erschöpften,
ohne dass etwas sie aufzuwühlen vermöchte, weil nichts sie
wirklich kümmerte. andrerseits haben sie recht: wenn die anderen
uns dazu bringen, dass wir uns über sie ärgern - über
ihre dreistigkeit, ungerechtigkeit, rücksichtslosigkeit -, dann
üben sie macht über uns aus, sie wuchern und fressen sich
in unsere seele, denn der ärger ist wie ein glühendes gift,
das alle milden, noblen und ausgewogenen empfindungen zersetzt und uns
den schlaf raubt. schlaflos machen wir licht und ärgern uns über
den ärger, der sich eingenistet hat wie ein schmarotzender schädling,
der uns aussaugt und entkräftet. wir sind nicht nur wütend
über den schaden, sondern auch darüber, dass er sich ganz
allein in uns entfaltet, denn während wir mit schmerzenden schläfen
auf dem bettrand sitzen, bleibt der ferne urheber unberührt von
der zersetzenden kraft des ärgers, deren opfer wir sind. auf der
menschenleeren inneren bühne, in das grelle licht stummer wut getaucht,
führen wir ganz allein für uns selbst ein drama auf mit schattenhaften
figuren und schattenhaften worten, die wir schattenhaften feinden entgegenschleudern
in hilflosem zorn, den wir als eisig loderndes feuer in unserm gedärm
spüren. und je grösser unsere verzweiflung darüber ist,
dass es nur ein schattenspiel ist und keine wirkliche auseinandersetzung,
in der es die möglichkeit gäbe, dem andern zu schaden und
ein gleichgewicht des leids herzustellen, desto wilder tanzen die giftigen
schatten und verfolgen uns bis in unsere träume. wir werden den
spiess umdrehen, denken wir grimmig, und schmieden nächtelang worte,
die im anderen die wirkung einer brandbombe entfalten werden, so dass
nun er es sein wird, in dem die flammen der empörung wüten,
während wir, durch schadenfreude besänftigt, in heiterer ruhe
unseren kaffee trinken.
costantino:
senhor prado, die zeit eilt, daher eine letzte frage, eine frage, die
mich seit jahren umtreibt: was ist kitsch?
prado:
kitsch ist das tückischste aller gefängnisse. die gitterstäbe
sind mit dem gold vereinfachter, unwirklicher gefühle verkleidet,
so dass man sie für die säulen eines palastes hält. aber
lassen sie mich noch folgendes sagen, junger mensch, der sie von der
krankheit angesteckt scheinen, zuwenig zeit zu haben: es ist ein fehler,
ein unsinniger gewaltakt, wenn wir uns auf das hier und jetzt konzentrieren
in der überzeugung, damit das wesentliche zu erfassen. worauf es
ankäme, wäre, sich sicher und gelassen, mit dem angemessenen
humor und der angemessenen melancholie, in der zeitlich und räumlich
ausgebreiteten inneren landschaft zu bewegen, die wir sind.