schandfleck.ch_textkritik/2006/april |
daniel
costantino
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joseph roth: hiob |
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ich glaube an die
kraft und musikalität der rothschen sprache wie an die konzentrierteste
form zu existieren, sich zu veredeln, zu entäussern, dicht und
intensiv zu träumen. die sätze, die kapitel, das ganze buch
ein ruhiger strom, der majestätisch durch die zeiten fliesst, seiner
helden schicksal lenkt, kinder schaukelt, verzweifelte in den strudel
reisst, städte, striche und epochen wachsen und blühen und
zerfallen lässt, gründe voller gefahr und schlick, fesseln
und schlingen, wellen frischer gischt, freien geists, die gerüche
hingespülten holzes, aromen braunen schlamms, verfaulten blaus,
die klage verflossenen glücks. > Zwölf
sechsjährige Schüler unterrichtete er im Lesen und Memorieren
der Bibel. Jeder von den zwölf brachte ihm an jedem Freitag zwanzig
Kopeken. Sie waren Mendel Singers einzige Einnahmen. Dreissig Jahre
war er erst alt. Aber seine Aussichten, mehr zu verdienen, waren gering,
vielleicht überhaupt nicht vorhanden. Wurden die Schüler älter,
kamen sie zu andern, weiseren Lehrern. Das Leben verteuerte sich von
Jahr zu Jahr. Die Ernten wurden ärmer und ärmer. Die Karotten
verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln erfroren, die
Suppen wässerig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten
mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts. hochsensible sprache,
meisterhaft. > Auch von der
Wanduhr der Singers schlug es sechs. Mendel erhob sich, gurgelte, räusperte
sich, murmelte ein Gebet, Deborah stand bereits am Herd und pustete
in den Samowar, Menuchim lallte aus seiner Ecke etwas Unverständliches,
Mirjam kämmte sich vor dem erblindeten Spiegel. Dann schlürfte
Deborah den heissen Tee, stehend, immer noch am Herd. "Wo ist jetzt
Schemarjah?" sagte sie plötzlich. Alle hatten an ihn gedacht.
wesentliche voraussetzung
zum kunstwerk ist die menschliche substanz. was ihr spannung verleiht,
ausdruck und gemüt, sie zum künstlerischen werk erst erhebt,
formales können. das gesetz der form. das verströmen der seele
in die struktur. > Sieben runde Tage sass Mendel Singer auf einem Schemel neben dem Kleiderschrank und schaute auf das Fenster, an dessen Scheibe zum Zeichen der Trauer ein weisses Stückchen Leinwand hing und in dem Tag und Nacht eine der beiden blauen Lampen brannte. Sieben runde Tage rollten nacheinander ab, wie grosse, schwarze, langsame Reifen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die Trauer. Der Reihe nach kamen die Nachbarn: Menkes, Skowronnek, Rottenberg und Groschel, brachten harte Eier und Eierbeugel für Mendel Singer, runde Speisen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die sieben Tage der Trauer. Mendel sprach wenig mit seinen Besuchern. Er bemerkte kaum, dass sie kamen und gingen. Tag und Nacht stand seine Tür offen, mit zurückgeschobenem, zwecklosem Riegel. Wer kommen wollte, kam, wer gehen wollte, ging. Der und jener versuchte, ein Gespräch anzufangen. Aber Mendel Singer wich ihm aus. Er sprach, während die andern lebendige Dinge erzählten, mit seiner toten Frau. "Du hast es gut, Deborah!" sagte er zu ihr. "Es ist nur schade, dass du keinen Sohn hinterlassen hast, ich selbst muss das Totengebet sagen, ich werde aber bald sterben, und niemand wird uns beweinen. Wie zwei kleine Stäubchen wurden wir verweht. Ich habe Kinder gezeugt, dein Schoss hat sie geboren, der Tod hat sie genommen. Voller Not und ohne Sinn war dein Leben. In jungen Jahren habe ich dein Fleisch genossen, in späteren Jahren habe ich es verschmäht. Weil nicht die Wärme der Liebe in uns war, sondern zwischen uns der Frost der Gewohnheit, starb alles rings um uns, verkümmerte alles und wurde verdorben. Du hast es gut, Deborah. Der Herr hat Mitleid mit dir gehabt. Du bist eine Tote und begraben. Mit mir hat Er kein Mitleid. Denn ich bin ein Toter und lebe. Er ist der Herr, Er weiss, was Er tut. Wenn du kannst, bete für mich, dass man mich auslösche aus dem Buch der Lebendigen." < der 'roman eines
einfachen mannes', wie es im untertitel steht, besticht auch durch die
autentizität seiner figuren. keine zeile beschönigt das elend,
keine rede klingt unglaubwürdig. nichts hier wirkt gesucht, gekünstelt,
dergleichengetan. die verklärung, vielleicht auch die religiöse
überhöhung, findet in der fantasie, im nachdenken über
das leben statt. sie wächst aus der menschlichen gabe, oder plage,
sich zu sehnen. und der furcht vor einer macht, der alles hienieden
sich beugt. das sind tiefste menschliche regungen, allgemeingültig
und über den zeitläuften stehend. darum ist der roman auch
für einen nichtjüdischen, nichtchristlichen menschen wie mich
bedeutend. der (religiös) gebildete leser wird noch ganz andere
verknüpfungen entdecken, des bin ich gewiss. der roman hat mich
mitgerissen und tief bewegt. ein wenig bin ich beim lesen, und auch
jetzt, nach tagen, ein anderer, ein verwandelter geworden. > Der Sohn ging.
Der Vater blieb auf dem Sofa, die Fotografie legte er sachte neben sich.
Sein müdes Auge schweifte durchs Zimmer zum Fenster. Von seinem
tiefgelagerten Sofa aus konnte er einen vielgezackten wolkenlosen Ausschnitt
des Himmels sehen. Er nahm noch einmal das Bild vor. Da war seine Schwiegertochter,
Menuchims Frau, da waren die Enkel, Menuchims Kinder. Betrachtete er
das Mädchen genauer, glaubte er ein Kinderbild Deborahs zu sehn.
Tot war Deborah, mit fremden, jenseitigen Augen erlebte sie vielleicht
das Wunder. Dankbar erinnerte sich Mendel an ihre junge Wärme,
die er einst gekostet hatte, ihre roten Wangen, ihre halboffenen Augen,
die im Dunkel der Liebesnächte geleuchtet hatten, schmale lockende
Lichter. Tote Deborah! |
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