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schandfleck.ch_textkritik/2006/april
daniel costantino
 

joseph roth: hiob

ich glaube an die kraft und musikalität der rothschen sprache wie an die konzentrierteste form zu existieren, sich zu veredeln, zu entäussern, dicht und intensiv zu träumen. die sätze, die kapitel, das ganze buch ein ruhiger strom, der majestätisch durch die zeiten fliesst, seiner helden schicksal lenkt, kinder schaukelt, verzweifelte in den strudel reisst, städte, striche und epochen wachsen und blühen und zerfallen lässt, gründe voller gefahr und schlick, fesseln und schlingen, wellen frischer gischt, freien geists, die gerüche hingespülten holzes, aromen braunen schlamms, verfaulten blaus, die klage verflossenen glücks.
wie diese sprache vom leben zeugt und den tod in sich birgt, alles vergehen und vergebliche bitten, wie der fluss dem meere treibt das leben ihm zu, das leid, unsre lust, zum erbarmen. roths worte, melancholische, dunkelfarbene worte, im klang, im rytmus ton um ton aufeinander gestimmt, wie spricht die gequälte seele daraus, ein verwunschenes geschick, ein heiliger bann. sorgfältig angelegte und behutsam sich entwickelnde komposition, schattierung, kadenz, ballung, retardierende passagen, klug gestreute zitate, entschiedene reprisen, variationen und modulationen des grundtemas, ohne fehl und tadel, kein abfall, kein füll- und stopfmaterial, souverän und erhaben, mit einem wort: vollkommen.

> Zwölf sechsjährige Schüler unterrichtete er im Lesen und Memorieren der Bibel. Jeder von den zwölf brachte ihm an jedem Freitag zwanzig Kopeken. Sie waren Mendel Singers einzige Einnahmen. Dreissig Jahre war er erst alt. Aber seine Aussichten, mehr zu verdienen, waren gering, vielleicht überhaupt nicht vorhanden. Wurden die Schüler älter, kamen sie zu andern, weiseren Lehrern. Das Leben verteuerte sich von Jahr zu Jahr. Die Ernten wurden ärmer und ärmer. Die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln erfroren, die Suppen wässerig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts.
Also klangen die Klagen Deborahs, der Frau Mendel Singers. Sie war ein Weib, manchmal ritt sie der Teufel. Sie schielte nach dem Besitz Wohlhabender und neidete Kaufleuten den Gewinn. Viel zu gering war Mendel Singer in ihren Augen. Die Kinder warf sie ihm vor, die Schwangerschaft, die Teuerung, die niedrigen Honorare und oft sogar das schlechte Wetter. Am Freitag scheuerte sie den Fussboden, bis er gelb wurde wie Safran. Ihre breiten Schultern zuckten auf und nieder im gleichmässigen Rhythmus, ihre starken Hände rieben kreuz und quer jedes einzelne Brett, und ihre Nägel fuhren in die Sparren und Hohlräume zwischen den Brettern und kratzten schwarzen Unrat hervor, den Sturzwellen aus dem Kübel vollends vernichteten. Wie ein breites, gewaltiges und behagliches Gebirge kroch sie durch das kahle, blaugetünchte Zimmer. Draussen, vor der Tür, lüfteten sich die Möbel, das braune hölzerne Bett, die Strohsäcke, ein blankgehobelter Tisch, zwei lange und schmale Bänke, horizontale Bretter, festgenagelt auf je zwei vertikalen. Sobald die erste Dämmerung an das Fenster hauchte, zündete Deborah die Kerzen an, in Leuchtern aus Alpaka, schlug die Hände vors Angesicht und betete. <

hochsensible sprache, meisterhaft.
'wie ein breites, gewaltiges und behagliches gebirge kroch sie durch das kahle, blaugetünchte zimmer. draussen, vor der tür, lüfteten sich die möbel, das braune hölzerne bett, die strohsäcke, ein blankgehobelter tisch, zwei lange und schmale bänke, horizontale bretter, festgenagelt auf je zwei vertikalen. sobald die erste dämmerung an das fenster hauchte, zündete deborah die kerzen an, in leuchtern aus alpaka, schlug die hände vors angesicht und betete.'
nicht zufällig der wechsel der vokale, umlaut, hell und dunkel, dunkel und hell. man achte des stabreims, des zusammenklangs der konsonanten, der tönung und schattierung. melodischer, unauffälliger, selbstverständlicher fluss. ein vergnügen durchs ganze buch. ein grosser roman. die sprache bildet eine atmosfäre um sich her. das jüdische schtetl, galizien, amerika nicht einfach ort der handlung, die legende hiobs nicht nur biblische, jüdische symbolik, nacherzählung, sondern dichterischer boden, aus dem die wahrheit menschlicher existenz, humus, dung, aus dem unsere seele steigt, im steten kreislauf von hoffnung und verdammnis. das geschehen wächst mit der macht der heimsuchung, dem zerfall eines redlichen und gläubigen herzens, aber auch im trost verklärter erinnerung und der gnade eines späten glücks. was ist erinnerung? sehnsucht nach der heimat, die vor der vertreibung grau, voller unbill, streit, monoton und unbedeutend, in der rückbesinnung aber erhaben und verheissungsvoll, begehrt und gelobt. so ist der mensch. das glück ist, wo er nicht ist.

> Auch von der Wanduhr der Singers schlug es sechs. Mendel erhob sich, gurgelte, räusperte sich, murmelte ein Gebet, Deborah stand bereits am Herd und pustete in den Samowar, Menuchim lallte aus seiner Ecke etwas Unverständliches, Mirjam kämmte sich vor dem erblindeten Spiegel. Dann schlürfte Deborah den heissen Tee, stehend, immer noch am Herd. "Wo ist jetzt Schemarjah?" sagte sie plötzlich. Alle hatten an ihn gedacht.
"Gott wird ihm helfen!" sagte Mendel Singer. Und also brach der Tag an.
Also brachen die folgenden Tage an, leere Tage, kümmerliche Tage. Ein Haus ohne Kinder, dachte Deborah. Alle hab' ich geboren, alle hab' ich gesäugt, ein Wind hat sie weggeblasen. Sie sah sich nach Mirjam um, sie fand die Tochter selten zu Haus. Menuchim allein blieb der Mutter. Immer streckte er die Arme aus, kam sie an seinem Winkel vorbei. Und wenn sie ihn küsste, suchte er nach ihrer Brust, wie ein Säugling. Vorwurfsvoll dachte sie an den Segen, der sich so langsam erfüllte, und sie zweifelte, ob sie die Gesundheit Menuchims noch erleben würde.
Das Haus schwieg, wenn der Singsang der lernenden Knaben aufhörte. Es schwieg und war finster. Es war wieder Winter. Man sparte Petroleum. Man legte sich zeitig schlafen. Man versank dankbar in der gütigen Nacht. Von Zeit zu Zeit schickte Jonas einen Gruss. Er diente in Pskow, erfeute sich seiner guten gewohnten Gesundheit und hatte keine Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten.
Also verrannen die Jahre. <

wesentliche voraussetzung zum kunstwerk ist die menschliche substanz. was ihr spannung verleiht, ausdruck und gemüt, sie zum künstlerischen werk erst erhebt, formales können. das gesetz der form. das verströmen der seele in die struktur.
roths roman zeugt von unmittelbarer schöpferischer kraft. von völlig ungekünstelter leidenschaft, höchstem sprachvermögen. die blosse aussage klebt nicht an sich fest, nichts wird behauptet, deklamiert, alles löst sich auf in poesie, öffnet den raum, mit dem roth den tod ins leben stellt und das leben vom tode umgibt. und welche knappheit, dichte, welch hoher grad an stimmung und wärme er verströmt, welche geborgenheit in diesem buch, wunderschöne geborgenheit!
mendels furchtbare einsamkeit in amerika, die trauer um das zurückgelassene, behinderte kind, sein hadern und brüten mitten in der modernen, grellen, grossen stadt, in der es seine familie zu wohlstand bringt, zu einem blühenden handel, doch ein anderer sohn stirbt weg, im kriege, in den er für die neue heimat zieht, deborah stirbt, und der dritte sohn bleibt verschollen im krieg für den zaren, es gibt nichts verlässliches auf der welt, nicht die jugend, nicht die liebe, und am wechselhaften geschick zerbricht der alte jude mendel, bricht mit jehova und mit der gemeinschaft, die ihn mit seinesgleichen verband.
es sei die szene wiedergegeben, in der mendel um seine tote frau trauert.

> Sieben runde Tage sass Mendel Singer auf einem Schemel neben dem Kleiderschrank und schaute auf das Fenster, an dessen Scheibe zum Zeichen der Trauer ein weisses Stückchen Leinwand hing und in dem Tag und Nacht eine der beiden blauen Lampen brannte. Sieben runde Tage rollten nacheinander ab, wie grosse, schwarze, langsame Reifen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die Trauer. Der Reihe nach kamen die Nachbarn: Menkes, Skowronnek, Rottenberg und Groschel, brachten harte Eier und Eierbeugel für Mendel Singer, runde Speisen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die sieben Tage der Trauer. Mendel sprach wenig mit seinen Besuchern. Er bemerkte kaum, dass sie kamen und gingen. Tag und Nacht stand seine Tür offen, mit zurückgeschobenem, zwecklosem Riegel. Wer kommen wollte, kam, wer gehen wollte, ging. Der und jener versuchte, ein Gespräch anzufangen. Aber Mendel Singer wich ihm aus. Er sprach, während die andern lebendige Dinge erzählten, mit seiner toten Frau. "Du hast es gut, Deborah!" sagte er zu ihr. "Es ist nur schade, dass du keinen Sohn hinterlassen hast, ich selbst muss das Totengebet sagen, ich werde aber bald sterben, und niemand wird uns beweinen. Wie zwei kleine Stäubchen wurden wir verweht. Ich habe Kinder gezeugt, dein Schoss hat sie geboren, der Tod hat sie genommen. Voller Not und ohne Sinn war dein Leben. In jungen Jahren habe ich dein Fleisch genossen, in späteren Jahren habe ich es verschmäht. Weil nicht die Wärme der Liebe in uns war, sondern zwischen uns der Frost der Gewohnheit, starb alles rings um uns, verkümmerte alles und wurde verdorben. Du hast es gut, Deborah. Der Herr hat Mitleid mit dir gehabt. Du bist eine Tote und begraben. Mit mir hat Er kein Mitleid. Denn ich bin ein Toter und lebe. Er ist der Herr, Er weiss, was Er tut. Wenn du kannst, bete für mich, dass man mich auslösche aus dem Buch der Lebendigen." <

der 'roman eines einfachen mannes', wie es im untertitel steht, besticht auch durch die autentizität seiner figuren. keine zeile beschönigt das elend, keine rede klingt unglaubwürdig. nichts hier wirkt gesucht, gekünstelt, dergleichengetan. die verklärung, vielleicht auch die religiöse überhöhung, findet in der fantasie, im nachdenken über das leben statt. sie wächst aus der menschlichen gabe, oder plage, sich zu sehnen. und der furcht vor einer macht, der alles hienieden sich beugt. das sind tiefste menschliche regungen, allgemeingültig und über den zeitläuften stehend. darum ist der roman auch für einen nichtjüdischen, nichtchristlichen menschen wie mich bedeutend. der (religiös) gebildete leser wird noch ganz andere verknüpfungen entdecken, des bin ich gewiss. der roman hat mich mitgerissen und tief bewegt. ein wenig bin ich beim lesen, und auch jetzt, nach tagen, ein anderer, ein verwandelter geworden.
das wunder am schluss des buches, der behinderte, verlorene sohn aus der alten heimat erscheint gesund, als ein berühmter musiker in amerika, vater und sohn fallen sich in die arme. so, wie joseph roth die szenen schildert, habe ich weinen müssen. das hat es lange nicht gegeben.
roth entlässt den leser mit tröstenden worten aus seinem roman, nach einer aufwühlenden, langen reise. ob kurze, besinnliche einkehr des mendel singer oder das ende seines lebens, wer weiss es zu sagen?

> Der Sohn ging. Der Vater blieb auf dem Sofa, die Fotografie legte er sachte neben sich. Sein müdes Auge schweifte durchs Zimmer zum Fenster. Von seinem tiefgelagerten Sofa aus konnte er einen vielgezackten wolkenlosen Ausschnitt des Himmels sehen. Er nahm noch einmal das Bild vor. Da war seine Schwiegertochter, Menuchims Frau, da waren die Enkel, Menuchims Kinder. Betrachtete er das Mädchen genauer, glaubte er ein Kinderbild Deborahs zu sehn. Tot war Deborah, mit fremden, jenseitigen Augen erlebte sie vielleicht das Wunder. Dankbar erinnerte sich Mendel an ihre junge Wärme, die er einst gekostet hatte, ihre roten Wangen, ihre halboffenen Augen, die im Dunkel der Liebesnächte geleuchtet hatten, schmale lockende Lichter. Tote Deborah!
Er stand auf, schob einen Sessel an das Sofa, stellte das Bild auf den Sessel und legte sich wieder hin. Während sie sich langsam schlossen, nahmen seine Augen die ganze blaue Heiterkeit des Himmels in den Schlaf hinüber und die Gesichter der neuen Kinder. Neben ihnen tauchten aus dem braunen Hintergrund des Porträts Jonas und Mirjam auf. Mendel schlief ein. Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Grösse der Wunder. <

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