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schandfleck.ch_textkritik/2010/mai
daniel costantino

max frisch: entwürfe zu einem dritten Tagebuch

Die posthume Herausgabe des Werks kommt fünfzig Jahre zu früh. Der wahre Wert Frisch’scher Prosa erschliesst sich dem heutigen Publikum im allgemeinen noch nicht.
Zwar werden auch künftigen Tags gutbestallte Denkmalpfleger ihres Amtes walten und die Prosa des Hochgelobten spitzfingrig aus den staubigen Archiven klauben und hüsteln und büscheln und schwören, es handle sich um die Offenbarungen hoher Kunst. Eine etablierte Literaturkritik wird prompten Sukkurs leisten und mutig zum eigenen Dogma stehen, das sie schon hundert Jahre zuvor ex cathedra verkündet und niemals revidiert. Was ihr damals an Frischs Prosa 'haarscharf errechnete Trapezkunst‘, 'Schönheit‘, die 'tiefrührend als Echo‘ nachwirke (Max Weber), 'glühend exotische Lyrismen‘ (Walter Jens), 'ganz dichterisches Dasein‘ (Rino Sanders) und heute 'verblüffend poetische Schilderungen von Natur und Glücksmomenten‘, 'Lust an der scharfen Analyse‘, 'das Glück des Schauens und Sehens‘, 'kultische Preisungen der irdischen Schönheit‘, ein 'subtil durchrhytmisiertes Stück‘, ein 'intellektuelles Abenteuer‘ (Peter von Matt über ebendieses Tagebuch), wird, wie im Gral durch Zeit und Zunft getragen, ihr fürder nicht schlechter munden und manchem Adepten in abermals hundert Jahren noch schmecken.
Aber das Savoir-faire zeitgemässer Prosa ist modischer Wandlung unterworfen, auf die alten Werte, umgemäht wie Wiesenflur, werden neue Tempel und Tümpel des Zeitgeists kommen, und der vollmundige Kanon von heute missklingt erst hörbar den gespitzten Ohren von morgen. In fünfzig Jahren wird das breite Literaturpublikum ebenso sicher lächeln über die faustdick aufgetragene Verehrung, die Frischs Tagebuch und seiner Prosa noch widerfahren, wie es jubilierend sich längst den neutönenden Messiassen zugewandt.

Frischs Analysen zu Gesellschaft und Zeitgeschehen geraten nie übers Konventionelle hinaus. Im eigentlichen Sinne analysiert er gar nicht, sondern tradiert allbekannte Ansichten, gutbürgerliches und hie und da auch gutlinksbürgerliches Allgemeingut. Bald wähnt man sich vom Ambiente eines Speiselokals und ins routinierte Parlando seiner verwöhnten Gäste eingehüllt, denen ein paar Statements flott von der Lippe gehen, während der Hauptgang aufgetragen wird, bald stellt man sich einen Stammtisch vor mit ein paar Bierhumpen auf verschmierten Deckeln und ein paar zechenden Hitzköpfen darüber. Damit niemand mich missverstehe: es ist in beiden Fällen nichts gegen solche Geselligkeit zu sagen, und sogar die 'Lust an der scharfen Analyse‘ sei den munteren Runden nicht abgesprochen. Manch ein Schwager hat sich bei solcher Gelegenheit vom andern betupft gefühlt und ihm beim Abschied den Handschlag verweigert. In Frischs Falle: die Vaterstadt gibt ihm keine Wohnung, muss man vernehmen und ist froh darum, dass er in New York wenigstens ein Loft besitzt und im Tessin ein schmuckes Häuschen, von dem er ausführlich berichtet, dieser 'Virtuose der Verknappung und Aussparung‘. Das Haus am einstigen Schulweg, Jugendstilveranda und Blick in den öffentlichen Park, verweigert ihm trotz sentimentaler Bewerbung nämlich eine pietätlose Erbgemeinschaft, eine andere Wohnung, Türme der Vaterstadt diesmal, Blick auf den See, kriegt er ebensowenig – dabei hätten ihn weder ein Siebenjahresvertrag noch ein benachbarter und 'bekannter Kunstsammler-Bankier‘ abgeschreckt, sich die Ehre zu geben.
Man fragt sich betroffen, wo er im ganzen Zürich nur seinen Jaguar parkiert, den er nie braucht.
Nein, dagegen ist nichts zu sagen. Nur dagegen, 'den Souverän des Identitätszweifels‘, den 'Schweizer Streitgeist‘ inhaltlich und darstellerisch zu überschätzen.
Keine Wohnung also, nur Literaturpreise von Zürich. Es ist auf Zürich und in Zürich eben kein Verlass, nicht auf den 'leider sehr reparaturanfälligen‘ Jaguar, wie er andernorts bedauert, nicht auf die Impotenz, wie er uns hier verrät.

Hingegen auf New York und Amerika:

> New York als Herauforderung – darauf konnte ich mich über Jahrzehnte hin verlassen, dass ich dort nicht verdöse, dass ich mich dort nicht erhole wie im Engadin oder in Paris, dass es mich schüttelt jeden Tag. <

So beginnt Frisch sein Tagebuch. Und um die etwas luxuriöse Herausforderung gleich sprachgestalterisch zu veranschaulichen, der therapeutisch wertvolle Schüttelbecher:

> I HATE IT
I LOVE IT
I HATE IT
I DON’T KNOW
I LOVE IT
etc <

Und: 'Wie dieses Amerika mich ankotzt!‘

Nicht ganz alles, was Frisch zu Amerika sagt, legt er so plump, so ungehobelt affekt- und effektvoll aufs Papier. Nur wird man im ganzen Buch nicht erfahren, was ihn denn eigentlich schüttle, zu sehr ergeht er sich in Allgemeinplätzen, zu lakonisch, zu lapidar, zu distanziert sind seine Voten abgefasst, und vor allem: nie erreicht seine Sprache eine Ebene, die miterleben liesse, was ihn angeblich umtreibe und bewege, nie erfahren die Themen der Zeit eine subjektive Verdichtung, eine sprachliche Intensität, eine emotionale Steigerung, alles bleibt blosse und blasse Mitteilung, mehr oder weniger kluge Attitüde, salope Bemerkung, Körper ohne Seele und oft auch ohne viel Geist. Im ganzen wird mit den Begriffen umgegangen, wie es jeder Stümper tun kann: mal gespreizt, mal geprotzt. Mal notiert, mal doziert.

Dass ein Schweizer Schriftsteller überhaupt über Politisches schreibt und immer auch wieder spricht, hat manchen Zeitgenossen im Lande verstört, manch andern wiederum begeistert. Man wusste, da ist einer nicht zufrieden mit der Welten Lauf und Kauf. Frisch war als öffentliche Person in verbiestertem und paranoidem Umfeld ein recht couragierter und engagierter Mann. Nur – wenn man den Nimbus abzieht, den eine solch singuläre Position automatisch mit sich bringt: literarisch das Beste dran ist, dass ab und zu einer aufbegehrt hat.

> Sie sind eine Super-Macht, die uns alle zerstören kann. <

Beginnt er eine seiner vielen Betrachtungen. Und behauptet, man vergesse, dass sie schon auf dem Mond gewesen sind (S. 9). Hingegen wisse kaum ein Amerikaner, das der Wohlstand seines Landes zu einem beträchtlichen Teil auf Ausbeutung andrer Völker und Länder beruhe. Wie er drauf kommt, dass die Mondlandung vergessen wurde, bleibt sein Geheimnis, und was dem Wörtchen 'hingegen‘ zu seiner Berechtigung verhilft, 'hingegen‘ ebenso. Und in diesem Stile macht er immer weiter und serviert seine lauwarmen Plätzchen eins aufs andere, ohne den geringsten Aufwand einer Prüfung der Ware. Schon gar nicht interessieren ihn Herstellung und Zusammensetzung seiner Hausmannskost. 'Die Amerikaner‘ stossen 'manchmal auf Unverständnis‘, weiss er zu berichten, wenn sie einen Militärputsch unterstützen müssen nämlich. Power, Money, Liberty, fasst er die geistige Befindlichkeit Amerikas, genauer wohl: seines tumben Volks zusammen, denn das Subjekt heisst immer noch 'die Amerikaner‘. Ach, 'darüber zu reden, hat keinen Zweck‘ – 'sie fühlen sich als die beste Art von Menschen, die es geben kann.‘
Intellektuelles Abenteuer? Subtil durchrhytmisiertes Stück? Subtil?
Aber wir sind immer noch auf Seite 9. Lassen wir ihm etwas Zeit, sich zu entfalten.

Wer hätts gewusst? Immer der Stärkere ist der Besserwisser, verrät Frisch: '... und deswegen vertragen sie Kritik an Amerika nicht einmal innerhalb einer Allianz, da sie in dieser Allianz zweiffellos die Stärkeren sind, also wissen sie es besser...‘ Das soll wohl heissen, in der NATO gelte das Recht des Stärkeren? Welch kühne These! Und wie originell gesagt!
Aber was sagt der Laudator von Matt zu genau dem selben Satz?

„Im Moment der zornigen Abrechnung“, hebt er an und gleich auch ab, „hinter dem die Erinnerung an ein gescheitertes Gespräch fast körperlich fühlbar wird, zeichnet sich eine zusätzliche Überlegung ab, die den Zusammenhang übersteigt. Sie verweist auf ein Problem, das an keine nationalen Besonderheiten mehr gebunden ist. Mit diesem Problem werden die Leser entlassen. Es ist nicht amerikaspezifisch, sondern färbt alles menschliche Zusammenleben ein. Zur Macht über andere gehört das Bewusstsein, auch intellektuell im Recht zu sein, allein aufgrund der höheren Verfügungsgewalt. Wer in der Macht steht, erträgt den Gedanken nicht, dass der Schwächere, der anders denkt, recht haben könnte. Die drei Worte 'also wissen sie es besser‘ enthalten eine pointierte Theorie zum Verhältnis von Macht und Intellekt, die dem Leser genau so weit vorgelegt wird, dass er sie eigenständig zu Ende denken kann. Gegen allen Anschein liegt also auch hier ein offener Textschluss vor.“
Ich glaube auch hier: darüber zu reden hat keinen Zweck. Lassen wir von Matt besserwissen. Wenn das unangemessene, viel zu ungefähre Wort dem Herrn Laudator Luft zu solch geblähtem Segel beschert, wünsche ich ihm eine gute Reise. Am besten mit Lafontaines Fabeln im Sack. Wegen pointierter Theorien und so.

> Das Bewusstsein, dass es mit unserer Zivilisation bald einmal zu Ende sein könnte – wirklich verdrängen können dieses Bewusstsein nur Schwangere und Politiker. <

Dahingestellt, das der 'Virtuose der Verknappung‘ Beispiel für Beispiel unschöner Wiederholungen und überflüssiger Betonungen liefert – im obigen Allianz-Satz genügte ein 'wo‘, besser noch ein 'in‘ statt des umständlichen 'da sie in dieser Allianz...‘, hier ein simples 'es‘ statt neuerdings und durchs Demonstrativpronomen überbetont 'dieses Bewusstsein‘ – die Schwangeren nehmen sich geradezu peinlich aus. Die Politiker alleine wären schon platt und billig genug. Da legt einer seine engagierte Stirn in Sorgenfalten und gibt ein frivoles Witzchen zum besten.
Die flotte Pointe nenne ich Stammtisch. Die ganze Aussage ist damit diskreditiert und wirkt wie grossspuriges Geunke.
Für einen, der weitherum als überzeugter Pazifist und Vertreter eines humanistischen Sozialismus galt und gilt, geraten die Stellungnahmen zu politischen Ereignissen merkwürdig lau. Intellektuell kolportieren sie sehr handzahme Schablonen ohne Kanten und Schärfen. Und sprachlich übersteigen sie nicht die Formulierungskunst des ersten besten Zeitungsredakteurs. Eine Passage, S. 89, soll dies verdeutlichen:

> Ist es wichtig, was ich zur Falkland-Krise denke? Trotzdem lese ich täglich die Berichte, bevor ich etwas anderes tue. Seit die Thatcher-Navy offenkundig den militärischen Sieg erringt, einen verlustreichen Sieg, wird auch in England nicht länger von Krise geredet, sondern von Krieg. Wie unvermeidlich war dieser Krieg? Die wirtschaftliche Misere in England, das politische Schlamassel in Argentinien, das macht einen Flaggen-Krieg alten Stils verständlich. Wochen lang habe ich auf der Karte verfolgt, wo Schiffe versenkt worden sind und wie die Briten ihren Brückenkopf erweitert haben, wie sie endlich den Feind in die Zange nehmen, alles wie im Lehrbuch, trotz des harten Wetters und des schwierigen Geländes. Ein klassischer Krieg, ein Krieg, der Gedenkstätten hinterlässt und Kosten und eine Siegesparade auf der einen Seite, Kosten und Vergeltungsdrang auf der anderen Seite, was weiter? - der schlichte Nachweis, dass die Exocet-Rakete, hergestellt in Frankreich, zur Zeit die beste ist, die es auf dem weltweiten Markt gibt. <

Blutleere Aneinanderreihung, gebrauchsfertiges Büchsenfutter. Nichts Kühnes, nichts Originelles, nichts als ein Geplapper. Die 'Thatcher-Navy‘ geradezu boulevardesk. Soll wohl statt Klartext den Standpunkt markieren. Man ist seinem linken Ruf immerhin was schuldig zwischendurch.
Faszinierendes Dokument des Selbstzweifels? Frischs Fragezeichen als Faszinosa?
Mit 'grösster Konzentration‘ habe Frisch anderthalb Jahre an diesen Texten gearbeitet. 'Diese Texte sind durchgearbeitet, man kann dokumentieren, dass es viele Stufen gegeben hat, bis der einzelne Text vorläufig fertig war.‘ (Von Matt im Schweizer Fernsehen am 20.4. 2010.)
Ich zweifle nicht daran. Dafür umso mehr noch an den literarischen Qualitäten Max Frischs. Da ergänzt und streicht und korrigiert ein Autor immer wieder seine Entwürfe, und es kommt doch nichts Rechtes dabei heraus. Doch von Matt ist 'sehr beeindruckt‘ und findet das Buch 'ausserordentlich faszinierend‘ – und mit ihm offenbar der Stiftungsrat des Frisch-Archivs, dem er selber auch angehört. Nur Adolf Muschg fand das Tagebuch einen 'Text minderer Güte‘, einen 'Frisch zweiter Wahl.‘
Von Matt hingegen gereicht 'jeder der hier versammelten Texte‘ zu einer 'Meditationsvorlage‘. Man müsse sich, empfiehlt er, auf die Sache konzentriert einlassen. Dabei fällt sein Wort vom 'intellektuellen Abenteuer‘.
Ob er die täglichen Kriegsberichte und das Abstecken versenkter Schiffe auch für ein intellektuelles Abenteuer hält, wie?

Alles in allem verbreitet Frisch die dümmsten Klischees. Was aber sein erster Festredner an Lobreden darüber bereithält, ist nicht nur peinlich, sondern unverschämt.

> Unsere Prince Street wird geteert. Ich schaue zu, wie ich als Bub solchen Arbeiten oft zugeschaut habe, das kenne ich: der schwarze Brei, der noch ein wenig raucht, dann die schwarze Walze. Aber sie arbeiten hier anders: wie grosse Buben. Wie Pioniere, die Eile haben. Wie Dilettanten, die sich zu helfen wissen. Tüchtig mit etwas Pfuscherei, also unzimperlich und zügig. Es gibt so viel Strasse, die geteert werden muss, allein in Manhattan. Die Walze fährt einen Lampenmast an und verbiegt ihn, keine Aufregung darüber. Das Zuschauen macht Spass. Lauter kräftige Männer, darunter auch grauhaarige, die diesen Job vermutlich schon kennen. In Europa (vor allem in der Schweiz) sieht es immer nach Facharbeit aus, auch wenn es Arbeiten sind, die jedermann verrichten könnte. Als ich vom Kiosk zurückkomme, ist die Teerung schon fünfzig Meter weiter gewalzt und fertig, der Lampenmast nicht verbogener als manche andere auch. <

Pioniere und grosse Buben also. Dilettanten allesamt, die sich zu helfen wissen. Tüchtig mit etwas Pfuscherei.
Ohne Zweifel amüsiert sich der grosse Heine- und Büchner- und Schillerpreisträger über die Tolpatsche vom amerikanischen Strassenbau, die einen Mast umhauen. Das Spässchen hat auch seinen temperierten Reiz, und es mag manch treues Vasallenherz beglücken, den grossen Bruder als tölpelhaften Peppone am Werk zu sehn. Man freut sich über die sogar strassenbauamtlich belegte Leitkultur der Europäer, selbst der putzigen Schweizer, die noch ihren teerenden Italienern und Jugoslawen beibringen, was eine rechtschaffene helvetische Facharbeit ist. Wir sehen also über alle Schlagworte und Schlaglöcher unserer alten Wertegemeinschaft hinweg und werden uns im Leben hüten, die Brooklyn- oder gar die Golden Gate Bridge zu begehen (gerade weil wir das Leben vermutlich schon kennen). Und hätten wir etwa über die 'kalkulierte Offenheit der Texte‘, speziell dieses Abschnitts, leicht hinweggelesen, weist uns von Matt auch hier den rechten Weg (S. 189):

> So scheint sich die hinreissende Beschreibung der Strassenarbeit in New York auf Seite 119 auf Anhieb ganz in der Alltagsbeobachtung zu erfüllen. Versenkt man sich aber etwas länger in die Szene, wird sie zu einer verblüffenden Mentalitätsstudie, einer kleinen Hommage an Amerika als das Land einer produktiven Unbekümmertheit, frei vom europäischen und nicht zuletzt schweizerischen Zwang zu Perfektion und Selbstkontrolle, frei von einem Gewissen, das sogar das Handeln im Alltag anfrisst. Und ergreifend berührt es den Leser, wenn er neben diesem alten Mann an der Prince Street plötzlich den kleinen Max Frisch sieht, der, sechzig Jahre früher, mit ebenso grossen Augen das Werk der städtischen Bauarbeiter an einer Strasse in Zürich-Hottingen verfolgt. <

Hinreissend sind hier bloss von Matts Suaden, und berührend ergreift einen doch nur sein hungriges und das Handeln anfressende Gewissen. Ob ich seiner produktiven Unbekümmertheit auch einmal eine kleine Hommage widme?
Wie aber ist es um Frischs 'kultische Preisungen der irdischen Schönheit‘ bestellt, um die 'spezifische Ästhetik dieses Tagebuchs‘?. Um seine 'verblüffend poetischen‘ Schilderungen?
Voyons un peu!

> Natürlich wollen wir Freunde bleiben, ja, das ist klar...
Ein schöner Tag:
Die Pyramiden von Teotihuacán –
Unsere Freundschaft hat schon begonnen.
Und dann noch ein schöner Tag:
Die Pyramide von Cholula –
(Das ist im Januar gewesen.)
Wir schreiben uns - <

Solche Passagen (S. 17) liest man recht häufig. Sie sind typischer Frisch. Ihr Strickmuster ist sich über die Jahrzehnte gleichgeblieben, haargenau gleich. Ein altgedienter Sonntagsanzug mit Hemd und Krawatte, robuste Schurwolle, etwas eng am Kragen. Man wird so dezent in Stimmung versetzt, als ginge man zur Kirche. Das Wort ist Mitteilung, nicht Ausdruck. Eine Konstatierung um die andere, reine Beschreibung. Keine Erregung und kein sinnlicher Reiz. Eine undynamische, pseudopoetische Sache allemal. Was solche Verse von Onkel Ottos Postkartengrüssen abhebt, ist einzig das Dirigat des beherzten Satzzeichens. Ein Maestro in Konzertlaune, der mit ausholendem Taktstock sein müdes Orchester immer wieder vergeblich zum Höhepunkt treibt.
In ähnlichen Vorstellungen mag sich von Matt ergehen, wenn er just eine solche Stelle zum Anlass nimmt, von einem 'subtil durchrhytmisierten Stück‘ zu reden. Zwar vermisst er die 'leuchtend wuchernden Naturbilder, von denen sein poetisches Ingenium einst nicht lassen konnte‘, die sich Frisch 'fast erbittert‘ verbiete (S. 189), und macht damit Werner Webers frühem Diktum, Frisch erlange 'das Schöne, indem er an Kunst weniger tut, als er vermöchte‘, alle Ehre, und wie der vordere vollends ins Leere flackerte und flunkerte, zündelt der heutige Zauberlehrling mit Knallgas ins Vakuum, dass man um seine Gesundheit fürchten muss. Doch tapfer hält er dem Meister die Stange und findet die 'kultischen Preisungen irdischer Schönheit‘ nun beispielsweise auf Seite 103 zwar verknappt, aber doch gerettet in eine 'Miniatur von japanischer Einfachheit‘:

> Mittags am Bach, das Wasser ist kieselklar, aber kalt, die Felsen sind warm von der Sonne und die Luft riecht nach Wald, nach Pilzen, man hört nichts als das Wasser und es gibt nichts zu denken. <

Das ist kein Ton, nicht einmal ein Tonfall und schon gar keine Stimmung, sondern trockenes Protokoll. Das typische Frisch-Aber bezeichnet Gegensätze, die keine sind und referiert eine Atmosphäre, die es nicht gibt. Fast möchte man Werner Webers Satz adaptieren und ihn ins Gegenteil beugen: Frisch tut an Kunst mehr, als er vermag. Die Stelle ist gewiss ganz hübsch, doch stösst sie mitnichten ins Poetische, Dichterische, Sprachschöpferische vor, nichts daran ist hier und allen andern Orts eigenständige Sprache, vitaler Ausdruck, originäres Bild. Dass die Felsen gerade von der Sonne sich wärmen, die Luft gerade nach Wald riecht und nach Pilzen, das fällt jedem Hobbypoeten schnell einmal mal zu und ein – zu schnell. Es ist in Tat und Wahrheit so, dass Frisch es nicht kann und nicht, dass er quasi aus künstlerischen Gründen dort innehält, wo Poesie begänne, aller beredten Interpunktion zum Trotz, die sich Zeichen für Zeichen liest wie ein Vademecum für minderbemittelte Museumsbesucher.
Was obigem Zitat zur Zierde, gereicht dem Ganzen zum Schaden: es gibt nichts zu denken.

> Drei Abende in Luxor:
(Das war nach Ostern.)
Der Nil hier ist nicht breiter als die Rhone bei Avignon, weniger breit als der untere Mississippi, vielleicht so breit wie die Wolga bei Gorki. Aber es ist der Nil. Ein feierlicher Anblick; (wir sitzen auf dem Balkon und trinken Whisky dazu) aus dem Bewusstsein: drei Jahrtausende lang Kultur, geschützt von der Wüste zu beiden Seiten. Welche Kultur ist länger gediehen? Was wir in der Dämmerung sehen: seine beiden Ufer grün, soweit sie flach sind, soweit der Nil sie mit seinem Schlamm und Wasser durchfluten kann. Am Ufer gegenüber ist diese Oase schmal; wo das Gelände sich hebt, sofort beginnt die Wüste. Ohne Zwischenzone. Eine vollkommene Wüste ohne einen einzigen Halm. Das kahle Gebirge, tagsüber knochenbleich, im Augenblick ist es lila, der Himmel darüber violett, die Sonne ist untergegegangen. Zwei oder drei Segel auf dem Strom, der im Augenblick heller erscheint als der Himmel, ein stilles Strömen ohne Glitzern. Da und dort an unserem Ufer ein paar Palmen. Die Hitze wird geniessbar, ein Gärtner wässert wieder den Rasen vor dem Hotel, wir sitzen ohne Hemd und barfuss und haben wieder Lust zu reden, zu denken, während unten die Promenade lärmig wird, Getrappel von Hufen, manchmal das Wiehern eines Esels, dazwischen Hupen, während die lautlosen Segel sich stromaufwärts bewegen - <

Eine stupende Examensablegung (S. 55). Nicht gewusst, dass der Nil bei Luxor breiter ist als die Rhone bei Avignon? Weniger breit als der untere Mississippi? Vielleicht so wie die Wolga bei Gorki? Ja, ein gutes Buch – unschätzbar, was man dazulernen kann! Welche Kultur ist länger gediehen, na? Dreitausend Jahre sind schon was, wenn man die Wüste schützend auf seiner Seite hat! In der Tat eine feierliche Sache, sehr feierlich. Whisky her! Grüne Ufer, soweit flach! Soweit schlamm- und wasserdurchflutet! Ich glaube, ohne gings gar nicht. Sofort wär diese Wüste! Ohne Zwischenzone. Eine vollkommene. Wie diese Poesie. Ohne den geringsten Halm. Und knochenbleich und lila und violett und die Sonne ist untergegangen. Ganz geniessbar die Hitze, nicht wahr? Habt ihr auch alle schön aufgepasst?
Tja, so liebt man seinen Frisch. Und hält für Kunst und Poesie, was gerade einem Schulbuch das Wasser reicht. Ein unispirierter Faktenhaufen. Ein grillenhafter Wissenstanz und Firlefanz. Mässig fühlt man sich nur vom letzten Satz eingesponnen, aber die Wirkung verblasst beim ersten Wiederlesen schon, zu routiniert und substanzlos diese Sprache und über die Jahrzehnte nicht vom Fleck gekommen, eins von vielen vielen Déjà-vus seit den 'Schwierigen‘.

Und so gedeiht dem Büchlein ein Frischling auf den andern und erlernen wir die Ars amandi eines alten Mannes mit junger Frau in Theorie und Praxis und erfahren manch Bedenkenswertes über die Bestrebungen weiblicher und männlicher Emanzipation, mal hier was, mal dort was. Themen und Sprache eines gutsituierten Weltenbummlers, hübsch in vorgeformte Rahmen und Vokabeln gebettet, meist Abwicklung dünnfädiger, doch Allgemeingut gewordener Gedankenspulen, oft auch kraftlose Wiederholung des Immerschongesagten. Mehr Attitüde als Haltung, mehr kokettieren als ernstmachen. Viel Phrasenhaftes ohne eigene Prägung und Charakter, dafür umso leichter konsumier- und verkaufbar. Salonfähiger Klatsch, substanzloses Räsonieren. Dasselbe dezente Licht, dieselbe eindimensionale Perspektive allerorts. Nichts kann so tief sein, fesselnd sein, poetisch sein. An einer Stelle bemerkt Frisch: 'Es langweilt mich jeder Satz, den ich geschrieben habe, es hilft auch nicht, dass ich Wörter umtausche in meinem Turm, und das ist es, was ich tagelang mache; ich tausche Wörter gegen Wörter.‘ So ist es, es würde mir nicht anders ergehn beim Abfassen solcher Texte. Wenn ich versuchte, aus den Stichworten, die mir alle Welt liefert, ein Buch zu machen. Und gerade da, wo das eigene Denken begänne, innezuhalten:

> Man würde heute Jesus wahrscheinlich nicht nur das Gesetzwidrige, sondern auch das Unchristliche seiner Verhaltensweise vorwerfen. Denn inzwischen, das heisst, seit das Christentum staatlich anerkannt worden ist, ist es ja christlich geworden, der Obrigkeit unter fast allen Umständen zu gehorchen. <

Tausendmal gehört. Einzig das Wörtchen 'fast‘ hätts in sich. Gerade die Ausnahmen wären doch von Interesse. Schon nur, um den nächstliegenden Gedanken, ob das Christentum nicht eigentlich dazu erfunden wäre, die Menschen zum Gehorsam zu erziehen. Und schon der römische Staat gerade deshalb... aber nein: Frisch lässt den guten alten Jesus die Tür für sich einrennen und tritt als verkappter Bergprediger über die nun freie Schwelle. Wie wohlfeil, wie pseudokritisch, wie unlauter anbiedernd sind solche Sätze!
Kurz, Frisch hat zu nahe am Mainstream gebaut, um wirklich ein bedeutender Schriftsteller zu sein. Auch die ganze Glücks- und Pechsmomenteprosa täuscht Innerlichkeit nur vor. Ein paar Gitarrenwirbel, ein paar romantische Zimbeln, satzzeichenlanges Silentium. Wenn er wirklich einmal einen poetischen Satz aufschreibt, wirkt er wie aus dem Zusammenhang gerissen (S. 25):

> Übrigens stimmt es nicht, was ich gestern oder vorgestern in einem Brief geschrieben habe: der Schnee sei weg. Da und dort in den Wiesen blüht es. Ein gelber Busch wie ein Feuerwerk. Eine Magnolie blüht. Aber auf den Bergen gegenüber liegt immer noch Schnee. Die Bläue darüber wie Bläue über dem Mittelmeer. Die Wälder sind noch nicht grün sondern braungrau, wie das Fell eines Hasen, man möchte den ganzen Hang einmal streicheln.
(Gestern wieder gesoffen.) <

Erst ist 'der Schnee weg‘. Dann 'blüht es‘ 'da und dort in den Wiesen‘. Dann 'blüht‘ 'eine Magnolie‘. Dann 'liegt noch immer Schnee‘. Dann ist eine 'Bläue‘ wie eine 'Bläue über dem Mittelmeer.‘ Und dann kommt plötzlich dieser poetische Satz, sogar zu meiner Verblüffung. Als hätte der Autor im Rezeptbuch nachgeschaut. Und dann wird wieder gesoffen.
Gut möglich, dass Frisch damit und mit anderem seiner Zeit sehr nahe kommt und den heutigen Lesern, wie Janina Fleischer in der 'hannoverschen Allgemeinen‘ geschrieben hat. Denen dies Tagebuch ein 'Geschenk der Weisheit sein kann, eine Offenbarung der Form, ein Manifest des Bewusstseins.‘ Nichts sei 'zu fassen‘ nämlich, 'der Glaube nicht, die Liebe nicht und nicht der Tod.‘

Es ist in der Tat nicht zu fassen. Ein Todkranker fährt noch Ski in Laax. Und der Autor wünscht sich, von ihm zu erfahren, 'was er glaubt bis in die Schmerzen hinein‘. Oder 'nicht glaubt‘ 'bis zur letzten Luzidität.‘ 'Bevor das Morphium‘ nämlich 'nicht die Sensibilität ausschaltet.‘

Fazit: Es wird empfohlen, Frischs literarisches Surrogat mit Vorsicht einzunehmen und immer schön kühl zu lagern. Bevor eine überhitzte Rezeption nämlich nicht die Sensibilität ausschaltet.

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