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schandfleck.ch_textkritik/2005/dezember
daniel costantino
 

blaise cendrars

weg mit allen unterlagen, zum teufel. man bringt es in monaten nicht zustande, seriös genug über ihn zu schreiben. wo man hinschaut, legenden und heiligenverehrung. es schwirrt einem noch nach zwanzig jahren der kopf von den koryfäen, die sich damals zu seinem hundertsten in bern selbst gefeiert. und natürlich auch die legende cendrars: seine reisen und abenteuer, das enzyklopädische wissen, die verschollenen romane, die fremdenlegion…doch ich bin ihnen milde gestimmt: cendrars zerzaust jeden schädel, ich kann mir das gar nicht anders vorstellen, auch meinen selbstverständlich. er hat packende bücher geschrieben, mitreissende romane, einer neuen lyrik den weg geebnet, haufenweise sagenhafte geschichten erzählt. er ist der geborene erzähler, schwärmer, enthusiast. es scheint, als wäre er überall gewesen, als hätte er alles erlebt und alle leute gekannt. wer an seine bücher herangeht wie an realistische literatur, dem muss er konfus und chaotisch vorkommen. er vermischt erlebtes und fantasiertes wie kein zweiter, und die mixtur wirkt auf mich wie eine droge. er verwischt seine spuren, treibt ein spiel mit der fiktion, den synonymen, den falschen fährten. doch er steckt auch in jeder menschenseele, nur haben ihn die meisten leser aus den augen verloren. man glaubt ja sehr an die ausgewogenheit und objektivität, und da alles schon in der zeitung steht, was braucht man da noch was anderes zu lesen, gerade ihn, der mit solchen dingen nichts am hut hat. seine literatur ist ein chaotischer schöpfungsakt, ringt dem verderben grandiose figuren, charaktere, fantasten ab, stemmt sich gegen den niedergang und wirkt wie die substanz alles erlebten und wieder verlorenen. meine freunde finden keine zeit für bücher, oder sie lesen alle die falschen. sie wollen sich besaufen oder ihre ruhe haben. sie pfeifen auf manches, aber nicht darauf, ihre miete bezahlen zu können. ein wahrer dichter würde sie da in ihrer existenz nur bedrohen. manchmal unterstützen sie eine kunsteinrichtung oder bedenken irgendein projekt mit einer milden gabe. es sind gute freunde, beste, aber sie hüten sich vor dem wahnsinnigwerden und meinen tatsächlich, es so zu schaffen.

ich kann sagen, dass mich als kind die englische sprache in magischen bann gezogen hat wie ein zauber aus urdenklicher zeit. ich habe ihn mir für selten gewordene momente bewahren können und nicht entweiht, indem ich etwa unterricht genommen hätte. ich fühlte mich als junger mensch einzig zuhause in den niederlanden, ich bin sicher, vor jeder landschaft der sprache wegen. nun habe ich das land so oft bereist, dass es seinen heimatlichen glanz fast ganz eingebüsst. ich trage aber sorge zu einem streichquartett von schubert, das ich hüte wie einen geheimen schatz und nur im winter während vierzehn tagen abspiele, in der einzig gültigen aufnahme. es gibt die liebe meines lebens seit dreissig jahren. ihrer ersten gestalt habe ich pubertäre gedichte gewidmet, später kaum noch ein paar zeilen, ich würde mich verbrennen und sterben. es muss genügen, manchmal von ihr zu träumen. den selbstmord, damals die einzig logische tat, habe ich feige unterlassen. es wäre lächerlich, weiter davon zu reden.

cendrars sprache, mehr noch als die fantastischen erzählungen selbst, rührt an diese dinge. ich lehne jede wiedergeburt ab, die nicht von ihr den atem geschöpft, jede inkarnation ausserhalb ihres soges, die nicht in ihrem strudel versinkt bis zur erleuchtung. dass sich kein pfaffe erdreiste, an meinem grabe anderes zu reklamieren. stille und nacht den freuden frömmlerischer provenienz!
so man leben will, lese man ihn. eine kriegserklärung an die tradierte form. pura natura. ein feuerball um die welt, die rettung vor dem wahnsinn wie seine pflege. keiner schreibt so impulsiv wie er. fachidiome, hetärenjargon, reine poesie, er beherrscht die tonarten und verfügt über einen stupenden wortschatz. er trägt dick auf wie ein geschwellter gockel und bleibt sensibel wie ein gütiger onkel. er fantasiert und begeistert. alles kann lüge sein, aber keine erfindung kommt der wahrheit näher. rebellisch, sprunghaft, voller sehnsucht. jeder satz zündet wie ein funke, traktiert, massakriert, und zugleich findet man sich in traumverlorenen welten. den erdball erobern und verrecken als der letzte gassenhund im dreck. die attitüde des vollkommenen machos und die zartheit des reinen herzens.
seine bücher sind weit verstreut, ein bruchteil auf deutsch, noch weniger im französischen original aufzutreiben: eines habe ich in namur antiquarisch gefunden, ein anderes in brüssel, und stelle fest, dass man ihn gar nicht schlecht übersetzen kann. wenn auch einiges auf deutsch sprachliche mängel aufweist da und dort, geht doch an der substanz nichts kaputt. alle jahre ändert die sache, mal ist alles vergriffen, dann gibts plötzlich eine neuauflage seiner gedichte, links im original, rechts auf deutsch übertragen. ich verleihe ‚moravagine', verschenke ihn gar, und finde ihn unter dem titel ‚der moloch' in der buchhandlung wieder. oder aber man bedauert sehr. ein verlag verbietet den abdruck von mehr als ein paar zeilen an dieser stelle. man findet sich für werbung zu schade. zur heiligenlegende, an der ich nun selber gestrickt, gehören verschollene manuskripte, in irgendwelchen banksaves in südamerika bis heute unter verschluss oder verkannt oder verbrannt. berühmte romane, die er nie geschrieben. legendäre artikel in musealen archiven. man ist froh um das, was man hat. ich füge diesem medium nun eine weitere spur auf erden bei:

> es war warm. sogar schwül.
alles glänzte perlmuttern, irisierte, bevor es überging in ein zerfliessendes violett mit grafitschwarzen, von langen orangen und trübroten streifen gemaserten nebeln.
alles wurde zu farbflecken, lichtstreifen, mattglanz.
dan yack dachte an den tod.
ein eisberg liess sich von der strömung herantreiben, gleissend wie ein brennglas, darin alle versteckten feuer des raums sich sammeln. seine kanten waren scharf, facettiert, und trotz seiner wild zerklüfteten und von blaugrünen grotten gehöhlten oberfläche war es der leuchtendste kristall. eine ganze weile schon folgte dan yack ihm wie hypnotisiert mit dem blick, da sah er ihn plötzlich in seiner schwimmlage taumeln und umkippen. die gesamte masse stürzte in schaumfontänen nieder und kam kieloben wieder zum vorschein, schmutzig, widerlich, vom meerwasser angefressen, gequollen, schrundig, mit kariösen zähnen und schwarzen stummeln, das bild einer hässlichen, schändlichen krankheit, mit giftigen farben, blutig von den kieselalgen, die ihn von unten besudelten.
welch eine offenbarung!
dan yack hatte unmittelbar die vorstellung, sein eigenes leben umwerfen zu sehen, und alles, was es bis dahin erhalten hatte, seine gefühle, sein stolz, seine unbekümmertheit, seine freude, alles wurde zunichte, drehte sich vor seinen augen, befleckt, beschmutzt, verwest, weggeschwemmt in einem magma aus dreck und fauligen resten.
kehrseite aller dinge, nachtseite der natur und der menschenseele, nie, nie wieder würde er fuss fassen, nein, nie würde er sein gleichgewicht zurückgewinnen, seine sicherheit, seine strahlende persönlichkeit, seine luzidität, seinen standort, er würde dahintreiben von nun an, auch er kieloben, und langsam wegschmelzen, zerbröckeln nach und nach und zuletzt auf einmal absacken in dem widerlichen und stinkenden schlammfluss.
sterben, ja, sterben.
sich auflösen, auseinanderfallen und wie dieser schwammige eisberg sich aufreiben und vergehen.
sich verflüchtigen.
dan yack griff mechanisch wieder nach dem steuer, um in den hafen zurückzukehren.
er sagte zu allem ja.
ja.
selbst zur idee des verbrechens.
und was sollte er sonst machen, ihm blieb keine hoffnung mehr!
ausserdem kam bald der winter.
als dan yack zehntausend seehundelebern gesammelt hatte, schloss er sich ins labor ein und kam nicht mehr heraus.
alles mochte zum teufel gehen!
er lachte laut, und er fing an zu trinken.
er trank.
er wollte niemanden sehen.
die einzige abwechslung bestand im zubereiten des seehundlebertrans für die neugeborenen. er überwachte seine retorten, glasröhren, in denen die blutdämpfe tropfen für tropfen auskühlten, bevor sie unter einem filter gerannen. er wechselte die vorlagen aus, füllte sein produkt, ein konzentriertes braunrotes gelee, in kleinen portionen ab, die er in eine art waffeleisen gab, um sie zu tabletten zu formen und mit einer doppelten prägung zu stempeln, auf einer seite mit s.b.c., den initialen seiner gesellschaft, auf der anderen, als bildseite, mit dem dicken kopf eines pausbäckigen babys.
dan yack dachte an gar nichts, nur eine fixe idee beschäftigte ihn: der tod.
ja, der tod.
dann trank dan yack.
wozu etwas anderes wollen, wozu?
trinken. <

aus: blaise cendrars, dan yack, arche verlag. abdruck ohne freundliche genehmigung des verlags.
wenn man glück hat, gibts den roman noch zu kaufen.

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