ich beziehe mich
auf den artikel "musikalische bildung unter druck" von marianne
mühlemann im bund vom 29. oktober 2004, seite 17.
da macht sich also
die leiterin der musikschule burgdorf, blanca siska, auf, der musikalischen
bildung mehr bedeutung zu verschaffen bzw. sie vor radikalen sparübungen
zu schützen. ich bin soweit ganz ihrer meinung, das ist eine wichtige,
eine nötige aufgabe. wichtig und nötig ist ebenfalls eine
allgemeine diskussion - die ja mit dem angesprochenen artikel und der
vorgesehenen tagung im forum burgdorf auch geführt wird. mein leserbrief
soll ein beitrag zu dieser diskussion sein, quasi ein erster kommentar
zu den beiträgen von blanca siska, lutz jänke und manfred
spitzer.
siskas absicht ist bestimmt ehrenvoll und gut, ihre sprache kommt mir
aber sehr seltsam vor, irgendwie schwammig. und ich kann mich des verdachts
nicht erwehren, dass hier - ob bewusst oder unbewusst - geistige nebelpetarden
abgefeuert worden sind. das schwadronieren vom werteverlust ist weder
neu noch originell und überhaupt schlicht chabis'. der einizige
ort, an dem zur zeit tatsächlich werteverluste geschehen, ist an
der börse - woher das wort ja auch kommt. ganz allgemein spricht
siska gerne vom wert, den die musik generiert, obwohl sie zwei zeilen
vorher behauptet, sie wolle das musikmachen dem leistungsprinzip entziehen.
entweder lässt die gesellschaft das wertlose, sich selbst genügende
musizieren zu und lässt dafür das schwafeln vom lernen der
"verantwortung für sich selbst und ein gemeinsames ganzes"
oder vom nutzen für eine "ganzheitliche gesunde entwicklung
des menschen" bleiben, oder aber sie steht dazu, dass jeder furz,
den ein mensch absondert, der kapitalistischen verwertung zugute kommen
muss bzw. "energie bringt". ganz abgesehen davon, läuft
mir bei den worten "ganzheitlich" und "gesund" oder
der wendung "freude und innere kraft" ein kalter schauer den
rücken hinunter. warum? weil das nachgewiesen vokabular des dritten
reiches ist. hitler und goebbels haben nur weniges, verstreut in einzelnen
reden, zur bildung gesagt - aber dass sie "ganzheitlich" (v.a.
auch sportlich!) sein sollte und anti-intellektuell, das lag ihnen am
herzen. ich hoffe, den topos von "freude und kraft" müsse
ich nicht weiter erläutern. wer hat denn die definitionsmacht von
"gesund"? was ist mit den nicht-gesunden, den kranken, die
keine energie fürs "freudige durchhalten" aufbringen,
die sich weder einordnen wollen noch können und die des tragens
von verantwortung müde geworden sind? sind das menschen, denen
die mündigkeit abgesprochen wird?
absolut schwammig und esoterisch bleibt der ausdruck "humanistische
werte" - da sie nicht sagt, was sie damit meint, kann man nur vermuten:
mit ihrem rückgriff auf die "antike" und die lateinischen
wörter "musica", "ratio", "emotio"
und "motio" verrät uns siska, dass sie gebildet ist,
und zwar in der so genannt humanistischen tradition des 19. jahrhunderts,
bildungsbürgerlich. "humanistisch" muss hier also als
historistischer kampfbegriff interpretiert werden. vielleicht könnte
siska mal einen gedanken daran verschwenden, ob der humanismus-begriff
möglicherweise verschiedene konzepte kennt. doch über musik
und kunst allgemein nachzudenken, scheint ohnehin nicht erwünscht:
"den verkopften musikunterricht in den schulen halte ich für
völligen blödsinn", doziert wissenschaftler spitzer.
es erstaunt mich, dass ein wissenschaftler etwas gegen das denken hat.
zudem ist es unfug, heute, bei uns, von verkopftem musikunterricht in
der schule zu sprechen, das stimmt einfach nicht. die kinder lernen,
schön und gut ihre stücke vorzutragen, eventuell im chor sich
als andere stimme zu behaupten u.ä. punkt fertig. musik - teoretisch
wie historisch - zu analysieren, was nämlich auch ein genaues hörenlernen
bedeuten würde, ist bis in die gymnasialstufe hinein verpönt.
doch wäre es denn nicht ebenso wichtig, dass kinder (und erwachsene)
auch lernen, das gesungene und gehörte im gesellschaftlichen zusammenhang
verorten zu können? oder hat musik und gesellschaft etwa nichts
miteinander zu tun? heisst mündig sein nicht auch, zusammenhänge
erkennen zu können, kritisch zu sein usf.?
schleierhaft bleibt mir schliesslich, warum nur eine tagung mit intellektuellen
referentinnen organisiert wird?