harry
pross: lob der anarchie. erfahrenes und erlesenes. textband anlässlich
des 80. geburtstages von harry pross. hg. von bernd kramer, zusammengestellt
mit dem autor. berlin: karin kramer verlag 2004.
ganz am schluss,
im nachwort, stehen die worte, die als motto für das ganze buch
genommen werden dürfen - dabei den titel aufnehmend:
"anarchie ist ein glückliches moment der freiheit, die substanz
menschlicher würde gegen die arroganz der macht zu behaupten. deshalb
verdient sie lob."
und ganz im sinne der umwälzung und des stetigen von-hinten-aufrollens
spricht harry pross in all den hier versammelten texten weniger von
dem, was "anarchie" bedeutet oder bedeuten könnte, aber
umso mehr davon, was der anarchie entgegensteht, was sie nicht meint.
anstelle der herrschaft der definition tritt so die möglichkeit/freiheit
zur diskussion, was wohl in erster linie vom umstand abhängt, dass
im vorliegenden buch essays und reden von 1968 bis 1983/2003 zu verschiedenen
temen unter einem titel präsentiert werden.
das knapp 200 seiten
starke bändchen hat vier kapitel. das abschliessende nachwort "zeitgenosse
etienne" bespricht das werk "diskurs über die freiwillige
knechtschaft des menschen" des französischen dichters und
politikers etienne de la boetie (1530-1563), dem pross eine durchaus
anarchische grundhaltung zuschreibt, habe dieser doch das gängige
muster von homer, platon, aristoteles, "dass ein führer, steuermann,
ein archos als architekt den bewegungsraum der ordnung vorgibt",
umgekehrt. das schlimmste sei, so boetie, dass sich die menschen auch
noch etwas darauf einbilden, untertanen zu sein, zu dienen, wie es ja
schon ihre väter getan hätten. doch pross bleibt auch hier
nicht in einem jahrhundert stecken, sondern greift über die zeiten
hinweg, landet unvermittelt im heutigen amerika (samt "mr. bush")
und schlägt den bogen der kritik von der freiwilligen knechtschaft
zur willig entgegengenommenen unterdrückenden maschinerie von fernsehen,
radio und presse im verband mit hochgerüsteten miltärapparaten.
pross, der sozialwissenschaftler und publizist sowie ehemalige professor
an der freien universität berlin und dozent an der journalistenschule
st. gallen, übt über das ganze buch hinweg immer wieder scharfe
medienkritik, besonders auch im ersten kapitel, das mit "im bonner
staat erlebt" überschrieben ist. presse, funk und tv, im hintergrund
die offizielle politik', betrieben anarchistenhetze - wie weit
diese bereitschaft ging, anarchie, anarchisten zu diffamieren, beschreibt
pross am beispiel der baader-meinhof-truppe, deren mitglieder beharrlich
als "anarchisten" bezeichnet wurden, obwohl sie kommunisten
waren ("rote armee fraktion", berufung auf mao und dessen
guerillataktik). das andere zentrale tema des ersten teils ist die frage
nach rolle und funktion des staates. weiter bezogen auf die verhältnisse
in der brd der 60er- und 70er-jahre kritisiert harry pross, dass gerade
auch hier die verfassung hinter ein mytisches staatsgebilde getreten
sei, was je nach politischer gesinnung zu ungleicher rechtsbehandlung
von bürgerinnen und bürgern führen konnte. bei kant beginnend
zeichnet pross den weg des staasbegriffes bis zu dessen verklärung
als idee gottes (hegel) nach, mit der konsequenz, dass das volk sich
in absoluter staatstreue zu üben und sich als organ des staates
zu begreifen habe, nicht etwa umgekehrt - wie noch bei kant -, dass
der staat als organ des volkes fungiert.
"weimarer lektionen" heisst das zweite kapitel, und es beginnt
mit einer geschichts- und filosophie-lektion. etwas gar wild springt
pross von namen zu namen und von problem zu problem: hunderte von figuren
treten auf, dutzende von temen wechseln sich ab. als grosse linie wird
dennoch erkennbar, wie sich seit dem 18. jahrhundert aus der verbindung
von ökonomischen und biologistischen teorien militarismus und nationalismus
als alles beherrschende kategorien aus dem glauben an den konkurrenz-gedanken
herausgebildet haben. daran scheiterte nach pross die weimarer republik
genauso, wie aus demselben grund bereits der 1. weltkrieg ausbrach.
die ideen der anarchisten in bayern hatten keine chance, weil die geistige
achtungsstellung schlicht in zu vielen körpern steckte. wer schon
nur leise zweifel äusserte, wurde plattgewalzt. dagegen sagt pross:
"der anarchismus hat keine andere aufgabe, als zu erreichen, dass
der kampf des menschen gegen den menschen aufhöre."
in den beiden weiteren kapiteln lernen wir verschiedene figuren und
ihre ideen kennen. unter dem titel "etik und mystik" gustav
radbruch, gustav landauer, martin buber und albert camus; unter der
überschrift "umstände und kunst als kunst" leo tolstoi,
n. g. tschernyschewski, herwarth walden sowie heinrich heine. pross
spricht hierbei eher selten und wenig exlplizit von anarchisten und
anarchismus, er präsentiert hier menschen - leider kommen frauen
nur am rande vor! -, die ihr denken weg von herrschaft und konkurrenz
auf solidarität und befreiung lenkten.
interessant scheint mir auch der umstand, dass harry pross bemüht
ist, geschichte, entgegen der herkömmlichen weise, vor allem aus
der verlierer-perspektive zu schreiben. "geschichte" und die
sie prägende begriffe brechen so aus "der erzählung dessen,
was für überliefernswert gehalten wird" aus und erhalten
in vielen fällen erst dadurch wieder ihre primäre bedeutung.
es wäre gar
hart, die textsammlung ein sammelsurium zu nennen, denn die fülle
an gedanken, die hier auf engstem raum zusammengefasst sind, ist schwäche
und stärke zugleich. schwäche in dieser hinsicht, dass filosofiegeschichtlich
nicht so beschlagene leserinnen nicht bloss eine unmenge von aspielungen
verpassen, sondern auch schlicht und einfach den faden verlieren können.
umgekehrt regt das buch zum weiterlesen und weiterdenken an, eine stärke,
die direkt dem anarchismus-nichtprogramm entspringt. sein lexikon-charakter
(vgl. namenregister) bietet zudem die möglichkeit des nachschlagens.
leider haben sich einige druckfehler eingeschlichen, was das lesen zuweilen
erschwert. im grossen und ganzen ist die lektüre aber spannend,
teilweise sogar vergnüglich, blitzt doch da und dort der sarkasitsche
witz der satire von harry pross deutlich hervor, sodass trotz trüber
aussichten doch auch ein befreiendes lachen über die dummheit der
arroganz der macht möglich scheint.
(der artikel ist in der juni 04-ausgabe der roten revue erschienen)