"Die
Politik hat Tausende hingemetzelt, die Religion Zehntausende."
(Sean O'Casey)
Da im Hintergrund Miles Davis' Trompete wie ein wohltuender Bach fließt,
der Sonntag wie selten doch einen guten Anfang macht und mir meine Hitlerbiographie
zu Kopfe steigt, schreibe ich nun ein paar Worte, ob notwendig oder
nicht, sinnvoll, aufbauend, oder nicht, einen ominösen Gegenstand
betreffend, der sich vom a-priori zum a-posteriori befähigte, ohne
dass ein Zutun notwendig gewesen wäre. Doch ich komme vom Weg ab,
durchschleiche unmerklich die Gefälle des Metaphysischen und zwinge
mich zurück ins Diesseits, auch wenn das Jenseits mehr zu offenbaren
weiß, wie man sagt. Drum besuche ich plötzlich erleuchtet
noch schnell den Gottesdienst, spaziere in den Ortskern, wähne
mich im Zweifel und bemerke erleichternd seufzend mein zeitliches Verpassen
der Messdiener, Ministranten, Jungscharführer, Pfaffen, aller vor
Frömmlichkeit triefenden Menschen. Also doch statt Erleuchtung
Erleichterung. So wieder an meinem Schreibtisch, in der Küche,
im Schlafsaal, Miles Davis' Trompete spielt beharrlich weiter, ich mache
einen letzten Blick in die herbstliche Kulisse und blinzle der fadigen
Sonne in die Augen. Ich halte inne und horche auf: Bill Evans am Klavier,
Dizzy Gillespie an der zweiten Trompete, Milt Jackson am Vibrafon; jetzt
kann mich nichts mehr erschüttern. Ich aber denke nach über
meine Schlagfertigkeit, die ich nie besaß und derer habhaft zu
werden mir stets misslang. Seltsam, Schlagfertigkeit wurde mir bisweilen
selten attestiert, aber ich sehe mich ja nicht von außen, das
Bild meiner Selbst für den Zweiten, wie mag das wohl sein, frage
ich mich und denke an Sartre, der auch keine Antwort hat. Es führt
zu nichts und ich lasse meine spärlichen Hirngespinste weiter schweifen,
so lange sie nicht vom unablässig triebhaften Unverständnis
abgelenkt werden. Ich denke mir, der Sarkasmus als allumfassender Schutz
vor dem Anderen; warum ist das nicht Sartre eingefallen. Wie die Brille,
die nicht nur vor der Sonne schützt. Jetzt Benny Goodman, etwas
zu laut, ich stelle es um, Big Band mochte ich noch nie. Das klassische
Trio, ja, leise, gedämpft, zurückhaltend. Bass und Schlagzeug
und dann kann kommen was will. Aber ich denke weiter, so weit es mir
erlaubt ist. Polemik also. Bin ich ein Polemiker, nein, denke ich mir,
ich bin nicht interessiert an Polemik, ich bin interessiert an der Erweiterung
der Interpretation der Wirklichkeit. So könnte man es ausdrücken.
Aber ich lass es lieber. Dafür einen Blick in den Garten, der langsam
stirbt und sich nicht schert um den Rest, wie die Vögel. Dann überlege
ich blitzartig: Wem verdanke ich mein Ich, meine Entwicklung, meine
Gedanken. Eine schwerwiegende Frage, sie sollte mit Vorsicht beantwortet
werden. Canetti bildet sich ein, ich hätte was von ihm, nicht weniger
Dostojewski und Franz Liszt. Ein kurzes Auflachen genügt, und ich
sehe bereits das Sterben der ersten Wespen. Unwillkürlich muss
ich den Kopf schütteln und mir eine Zigarette anzünden. Was
tröstet uns denn. Vielleicht daher der Hang zur Sucht, das Klammern,
das oftmals unerbitterlich endet. Ja ja die Zeit vorher, wie ein alter
abgekauter Traum, "sich lernend verändern", sagt Heller,
ich glaub ihm nicht, mein Hinterlappen schon eher. Soll ich wieder von
der Religion anfangen. Dieses Geschwür der Menschen, in Dummheit,
Angst und Brutalität geboren, psychologisch mit einem Satz erklärt
und ihrer Glaubwürdigkeit entzogen; jener Satz könnte folgendermaßen
lauten: Religion als Nebenprodukt normaler psychologischer Neigungen.
Aber das ist kein Satz, es fehlt das Prädikat. "Die Tatsache
jedoch, dass es ein Bedürfnis nach Religion gibt, dass Religion
Trost, Glück und ewiges Leben verspricht und sich manchmal gut
anfühlt, beweist keineswegs und ist nicht einmal ein Indiz dafür,
dass Gott nur eine Illusion sei", sagte einmal ein gescheiter Mensch
und mein Nachbar, der Psychiater ist, erklärt ihn für verrückt.
Ich aber enthalte mich meiner Worte, kann keine Klarheit mehr erkennen,
keinen Standpunkt, ohne dessen Erscheinung eine Auseinandersetzung naturgemäß
unmöglich ist, wie Bernhard sagen würde. Da fällt mir
George Bernard Shaw ein: "Die Tatsache, dass ein gläubiger
Mensch glücklicher ist als ein Skeptiker, trägt zur Sache
nicht mehr bei als die Tatsache, dass ein betrunkener Mensch glücklicher
ist als ein nüchterner." Auch so ein Gedanke. Oder betrachtet
man es biologisch: "Die natürliche Selektion stattet das Gehirn
eines Kindes mit der Neigung aus, den Eltern bzw. Stammesältesten
alles zu glauben, was sie sagen, um so bestmöglichst ihr Leben
zu sicher." Die Gefährlichkeit der Religion; ich sinniere.
Vielleicht: "Der Nationalsozialismus war eine Religion. Glaubenssehnsucht,
die die Kirche nicht mehr erfüllte, Glaubenskraft, die die Kirche
nicht mehr band, sind in ihr eingeflossen.", das war Carl Friedrich
von Weizsäcker. Oder auch: "Gewalt unter Gott war stets höher
als ohne", das Michel Onfray. Aber lassen wir das Zitieren, ich
muss meinen eigenen Kopf gebrauchen. Ich sehe nochmals aus dem Fenster.
Religion, das treibt meinen niederen Blutdruck in die Höhe. Nein,
ich lass es lieber. Oder doch, hier hab ich noch was: "Das Recht
zu bestrafen geht auf die Religionen zurück. Gott bestraft Adam
und Eva bzw. den Menschen. Anstatt Hilfe gibt es Bestrafung, man denke
an Pädophilie.", "Religion? Glaube, Gehorsam, Unterwerfung.",
"Die Folgen der Erbsünde: Hass auf Frauen und alles Fleischliche,
Schuldgefühle, Verlangen nach Reue und Wiedergutmachung, weg von
der Wahrheit in die Kritiklosigkeit.", zugegeben, das war jetzt
von mir. Oder auch: Index der Kirche: Montaigne, Sartre, Pascal, Descartes,
Kant, Spinoza, Locke, Hume, Rousseau, Freud, um nur einige zu nennen.
Kein Hitler. Oder auch: Die Bibel als Produkt aus Neurosen. Oder weiter:
Aus der Impotenz des Paulus entspringt Hass auf alles Fleischliche und
Sexuelle, Folgen: Zölibat, Keuschheit, Abstinenz. Die Zehn Gebote:
"Du sollst nicht töten", gilt diese vermeintliche Ethik
jedoch ausschließlich innerhalb der Glaubensgemeinschaft; man
könnte auch von den Anfängen der Rassentrennung sprechen.
Bibel, Thora, Koran als Anstifter zu Mord, Rassismus, Gewalttaten. Wer
geht noch in die Kirche? Nationalsozialistische Reichskristallnacht
als moderne Form der Tempelaustreibung durch Jesus. Demokratie lebt
von ständiger Bewegung, Veränderungen, vertraglichen Vereinbarungen,
fließender Zeit, Dynamik, Dialektik, sie atmet durch Einfluss
lebendiger Kräfte, Verstand, Dialog, kommunikative Zusammenarbeit,
Diplomatie. Theokratie führt zu Bewegungslosigkeit, Irrationalität,
Tod.
Vielleicht doch noch ein Zitat: "Religion eignet sich hervorragend
dazu, einfache Leute ruhig zu stellen." (Napoleon) Oder: "Religion
gilt dem gemeinen Mann als wahr, dem Weisen als falsch und dem Herrscher
als nützlich." (Seneca)
Ich lehne Religion ab.
Miles Davis spielt nicht mehr, schüttelt den Kopf, hat mich verlassen.
Der Herbst ist gegangen und mit ihm die toten Tiere.