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schandfleck.ch_archiv/2002/nr.3
kathrin cerny*
politik à la bolivienne

*kathrin nahm 1997/98 am austauschprogramm von icye teil. während einem jahr
lebte sie in einer bolivianischen gastfamilie in cochabamba und
arbeitete dort in einem heim für strassenkinder. die im artikel geschilderten ereignisse erlebte sie, als sie im sommer 2000 in bolivien ferien machte.

bolivien ist ein land mit grossen sozialen problemen, einer tiefen kluft zwischen arm und reich, stadt und land. andere länder südamerikas begegnen dieser situation mit gewalt, sogar krieg, aber nicht bolivien. die bolivianer ziehen es vor, sich in gewerkschaften zu organisieren und auf friedliche weise druck auf die regierung auszuüben - etwa durch demonstrationen, streiks oder blockaden. diese sind meist von kurzer dauer und üblicherweise wird relativ schnell ein kompromiss mit der regierung erzielt.

es war also nichts aussergewöhnliches, als die gewerkschaft der lehrer im sommer 2000 beschloss, ihrer forderung nach mehr lohn mit blockaden in allen grossen städten nachdruck zu verleihen. no big deal, würde man meinen, aber diesmal kam alles anders. plötzlich erinnerten sich andere gruppierungen daran, dass sie ja auch forderungen an die regierung hatten - und offenbar schien ihnen der zeitpunkt ideal, auf diese ebenfalls mittels blockaden aufmerksam zu machen. ein wahres blockadefieber ergriff die bolivianer. die meisten wollten mit dieser massnahme auf ihre anliegen - berechtigt oder nicht - aufmerksam machen. aber die situation artete aus. in cochabamba legten strassenkinder brennende äste über strassen und brücken und verlangten dann geld, um fahrzeuge passieren zu lassen. kokabauern, campesinos, arbeiter, strassenkinder - jedem seine blockade. sämtliche verkehrsadern des landes und der grösseren städte waren unpassierbar, tausende steckten in bussen oder lastwagen irgendwo auf den landstrassen ohne nahrungsmittel fest. die armee griff ein, es gab sogar tote. zum glück besannen sich die politiker bald wieder und pfiffen die soldaten zurück, bevor sie noch mehr schaden anrichten konnten.

die situation war ziemlich absurd und ich als ausländerin konnte darüber lachen, auch wenn ich die ungewissheit über den weiteren verlauf zeitweise etwas beängstigend fand. aber für die bolivianer war das bitterer ernst. sie hatten kein flugticket, das sie in die sicherheit der schweiz zurückbrachte.

die meisten forderungen der campesinos, kokabauern, usw. waren gerechtfertigt. aber realistisch waren sie nicht alle. es ist klar, dass es in bolivien viele probleme gibt, die nach einer lösung schreien. doch hatten die protestierenden noch nicht gemerkt, dass sie sich mit der paralysierung des landes am ende selbt am meisten schaden zufügten - sich, und allen anderen, die selbst wenig haben oder sich in harter arbeit einen bescheidenen wohlstand erarbeiten konnten. diejenigen, gegen die sich ihre wut richtete - die regierenden - spürten am wenigsten von den protesten. das beste beispiel dafür war der bolivianische präsident und ex-diktator (ja, die bolivianer hatten einen brutalen ehemaligen diktator ganz demokratisch zum präsidenten gewählt) hugo banzer, der nach einer woche blockade immer noch frisch-fröhlich in santa cruz weilte und eine gewerbeausstellung einweihte. er hatte ja seinen privatjet, warum sollten ihn also die strassenblockaden kümmern?

die wut der leute war verständlich, aber sie richteten damit einen grossteil des fortschritts zu grunde, den das land in den letzten jahren gemacht hatte. leider hatte dieser fortschritt den nachteil, an einem grossen teil der bevölkerung spurlos vorbei gegangen zu sein und damit eine grosse kluft zu schaffen. während in den städten internet-cafés aus dem boden schossen und die zahl der mobiltelefone exponentiell zunahm, waren vor allem ländliche gebiete im vorletzten jahrhundert stehen geblieben. es war nur allzu verständlich, dass die benachteiligten jetzt forderten, am fortschritt teilhaben zu können.

nach etwa einem monat einigten sich die verschiedenen parteien, und bolivien machte sich daran, die entstandenen schäden zu beheben. aber die ursachen der probleme, welche diese proteste hervorriefen, sind auch heute - zwei jahre später - noch nicht aus der welt geschafft. es ist zu hoffen, dass bolivien bald einen weg findet, sein riesiges potential zum wohl aller bolivianer auszunutzen, bevor es in einen ähnlich gewalttätigen zustand fällt wie einige seiner nachbarländer.

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