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dieser
brief von osman murat ülke (s. nr. 1/99) wurde erstmals in der "graswurzelrevolution"
abgedruckt.
liebe leserinnen und
leser
ich bin ossi. wie viele von euch wissen, war ich wegen meiner kriegsdienstverweigerung
in der türkei inhaftiert. nach meiner ersten inhaftierung im oktober
1997 wurde ich im dezember '97 freigelassen und erschien im januar 1998
erneut vor gericht - um erneut verhaftet zu werden. ich wurde im mai '98
wieder freigelassen und ging im oktober '98 zurück ins gefängnis.
das sollte eigentlich meine letzte konfrontation mit dem gerichtssaal
sein. doch dieses mal übernahm das rekrutierungsbüro die initiative
und entschied, mich nicht frei gehen zu lassen, nachdem das gericht mich
entlassen hatte. so wurde ich wieder und wieder verhaftet, bis meine anwältinnen
es schafften, mich am 9. märz 1999 herauszuhauen!
während der zwei jahre, die ich in gefängnissen, kasernen und
rekrutierungsbüros (als zwischenstation
während transporten) verbrachte, hat sich die legale situation nicht
viel weiterentwickelt. ich "gehöre" weiterhin zur armee,
was bedeutet, dass ich derzeit in der position bin, ein deserteur zu sein,
und jederzeit erneut inhaftiert werden kann. auf der anderen seite scheint
es so, dass
das militär derzeit nicht sehr erpicht darauf ist, mich zu inhaftieren,
da dies lediglich die konfrontation weiterführen würde - ohne
meinen willen zu brechen.
viele mögen sich fragen, ob diese geschichte sinn macht, ob es das
wert ist, durch all dies zu gehen. ist diese art zu handeln nicht einfach
märtyertum? anstatt politische argumente zu entwickeln, möchte
ich mit einer einfachen geschichte aus meinem alltäglichen leben
im gefängnis antworten.
als ich im november 1997 zum ersten mal im gefängnis von eskisehir
eintraf, wurde ich in eine gemeinschaftszelle gebracht (mit einer kapazität
von 12 personen). ich war der einzige, der keine uniform trug (ich weigerte
mich und erinnerte die gefängnisleitung an meinen vorherigen hungerstreik
im militärgefängnis in mamak/ankara). meine zellengenossen waren
vor mir gewarnt worden. nach zwei tagen gegenseitigen kennenlernens herrschte
um mich herum schweigen. ein islamist redete weiter mit mir, doch das
ist eine andere geschichte.
nach einiger zeit erkannte ich, dass es ein embargo gegen mich gab, und
dass die verantwortliche person dafür der zellenleiter war. er war
ein überzeugter faschist und bereits seit zwei jahren im gefängnis,
da er jemanden getötet hatte (aus finanziellen gründen). lasst
mich ihn "ahmet" nennen.
es war sehr schwer für mich, mit diesem sozialen stress zu leben.
ich war gewohnt, den autoritäten widerstand zu leisten, doch wie
kann man in einem kleinen raum voll mit menschen leben, von denen niemand
ein einziges wort mit dir wechseln will?
innerhalb eines monats wurde ich freigelassen. doch ich kehrte bald zurück
- wie ihr wisst. dieses mal waren meine zellengenossen sehr überrascht,
da sie sahen, dass mein aufenthalt kein zufall war oder etwas, das ausserhalb
meines willens lag. sie erkannten, dass es mir ernst war mit dem ganzen
unsinn über kriegsdienstverweigerung und dass ich selbst entschied,
hier zu sein. insbesondere ahmet hatte schwierigkeiten, das zu akzeptieren,
und so begann er, mit mir zu diskutieren. die diskussionen waren besonders
hart, wenn wir die fernsehnachrichten sahen.
nach einer zeit kamen wir zu dem punkt des friedlichen zusammenlebens.
auch wenn unsere ideen sich widersprachen, so begann er mich zu respektieren,
gefolgt von einer art von freundschaft.
indem er mich und
mein verhalten im gefängnis beobachtete, versuchte ahmet mehr und
mehr mich und meine prinzipien zu verstehen. so begannen wir in einer
entspannteren art zu diskutieren: etik, religion, anthropologie, geschichte,
nationalismus, psychologie, usw. er las die bücher, die mir meine
freunde brachten, und eines tages löste eines dieser bücher
eine explosion in ihm aus. es war eine einführung in die geschichte
der westlichen filosofie. nach diesem buch flossen ahmets fragen zu allem,
was man sich vorstellen kann, aus ihm heraus.
nach fast zwei jahren gegenseitiger bekanntschaft erfolgten veränderungen
bei ihm schneller und schneller. während einer unserer nächtlichen
konversationen sagte er mir, dass das nur möglich sei, da er mir
vertraue, dass ich nicht versuchen würde, ihn zu indoktrinieren.
so begann, schritt für schritt, auch das gefängnisleben sich
zu verändern. ahmet war verantwortlich für die gemeinschaft
von 12 männern, doch wollte er diese position nicht weiter einnehmen.
andererseits war jeder gewohnt, mit dieser strikten hierarchie zu leben.
ahmet konnte sich nicht zurückziehen, denn wir alle wussten, dass
sich die situation verschlechtern würde. wir - alle zusammen - versuchten
langsam, eine menschlichere und demokratischere atmosfäre zu schaffen.
das war recht schwierig, denn menschen, die gewohnt sind, regiert zu werden,
verstehen dies als ein zeichen der schwäche. das ergebnis ist oft
chaos an stelle von demokratie. auf der anderen seite suchen die gefängnisleitung
und die wärter immer nach möglichkeiten, in das leben der gemeinschaftszellen
einzugreifen und es zu kontrollieren.
sicherlich haben wir keine reine oase geschaffen, doch immerhin haben
wir einen konsens darüber erreicht, körperliche gewalt und ähnliches
auszuschliessen. doch am wichtigsten für mich ist, ahmet gekannt
zu haben, den prozess mit angesehen zu haben, durch den er gegangen ist.
ein wirkliches beispiel zu haben, wie sich jemand verändern kann.
als ich schliesslich entlassen wurde, war er bereits seit 4 jahren im
gefängnis, und es lagen noch 13 jahre vor ihm. jetzt versuche ich,
nicht den kontakt zu verlieren.
natürlich ist diese geschichte nicht die ganze antwort auf die oben
erwähnten fragen, und ich entschied mich nicht für die kriegsdienstverweigerung,
um mit jemanden wie ahmet in kontakt zu kommen - doch diese erfahrung
und viele andere haben mir wieder und wieder gezeigt, dass es das wert
ist, darauf zu bestehen, du selbst zu sein, deinem eigenen willen zu folgen.
ich hatte während meines aufenthaltes im gefängnis nie das gefühl,
mein leben/meine zeit ohne sinn zu verbringen. ganz im gegenteil: diese
jahre haben mir wieder deutlich gemacht: leben heisst widerstehen.
ich möchte schliessen mit einigen kurzen worten an die leserinnen
der graswurzelrevolution und aktivistinnen von amnesty international,
die mir in all diesen jahren ihre solidarität zeigten. ich erhielt
eure briefe nie, doch als klar wurde, dass die armee den fluss der briefe
zu mir unterbrach, begann meine gruppe, der verein der kriegsgegnerinnen
izmir, diese briefe zu sammeln. in nur drei monaten kamen so mehr als
2'500 briefe in izmir an. auch wenn ich sie nicht lesen konnte, so erzählten
mir meine freunde von diesem brieffluss. nach meiner freilassung war eines
der ersten dinge, die ich tat, diesen briefberg zu begutachten. ich werde
sie nie alle lesen können! vielen vielen dank dafür, mit mir
gewesen zu sein.
liebe grüsse,
ossi
(osman murat ülke)
kontakt:
izmir savas karsitlari dernegi
1468 sokak no 6/1, alsançak -izmir, türkei
tel.: +90-232-4642492, fax: - 4640842
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