die stärke
des romans liegt in aufbau und durchführung einer ideologie, eines
staunenswerten, paradoxen filosofischen modells, in der erfindung eines
gegenläufigen moral- und sozialsystems, im kreativen coup einer
blasfemischen vorführung und der denunziatorischen, sarkastischen,
polemischen lust des autors, die tragenden säulen des biedersinns
und des bürgerlichen anstands, der abendländischen kultur
zu zertrümmern. sie erweist sich in der genialen brandmarkung und
unterhaltsamen demaskierung gesellschaftlicher bräuche, konformer
stupidität, in seiner art, tabus anzufassen und zu verspotten,
werte, ordnung, konventionen anzugreifen, blosszustellen, umzumünzen,
als eine begnadete subversive leistung gegen die ehrbarkeit, die das
achtbare korrumpiert und das geächtete auf den sockel hievt, den
ganzen moralischen müll aufdeckt und beleuchtet und die grundsätze
zivilisatorischer sitte auf den kopf zu stellen vermag.
dies kapitale vermögen tourniers umfasst, nach einem etwas oberflächlich
geratenen, recht unscharfen beginn, die ersten zwei drittel des buches,
steigert sich darin kontinuierlich von kapitel zu kapitel, ergreift
immer mehr soziale bereiche, erweitert und vertieft die zusammenhänge,
erweist sich als haarsträubende analyse, als veritable, destruktive
gesellschaftskritik, ja verdichtet sich zu einer spektakulären
gegen- und schattenwelt, erschafft im dialektischen gegensatz eine spezifisch
eigene, ingeniöse, in dieser form und fülle nicht dagewesene
und fantastische kosmologie.
leider fällt das letzte drittel ab, bleibt hinter den erwartungen
zurück, trudelt in fast endlosen wiederholungen und immer schwächlicher
werdenden variationen des temas aus. nur wenig spannung noch und dünnere
substanz auf den letzten 150 seiten. der roman zerfranst, die beabsichtigte
höhenflug misslingt. die beschränkung nach 300 seiten auf
ein verklingendes anhängsel, eine kleine coda, eine letzte reminiszenz,
hätte vollauf genügt und dem werke gutgetan.
seine glanzpunkte verdankt der roman der provokation, dem sarkasmus
und der monströsität. nicht aber, ich werde darauf zu sprechen
kommen, der sprache selbst.
idee und gegenidee, punkt und kontrapunkt. wenn tournier nicht, und
grandios! den gegenentwurf herausarbeitet, die schattenwelt entwirft,
bleibt seine darstellung ihres kontrasts, der normalität, der dominierenden
konvention, der alltagsrealität, im klischeehaften. dass der ungleich
voluminösere schattenteil ebenso klischeehaft sich präsentiere,
würde man wohl beweisen können - aber jetzt wirkt das befreiend,
zynisch, unterhaltend schockant. ein intellektueller spass sondergleichen.
an einem kerntema, der homosexualität, erläutert: die gesellschaftliche
ächtung der homosexualität kehrt tournier einfach um in eine
ächtung des heterosexuellen und der heterosexualität. alle
schmach, alle unterdrückung, jede denkbare erniedrigung zahlt er
mit derselben münze zurück. plötzlich steht die spiesserwelt
kopf, wird ausgegrenzt und der lächerlichkeit preisgegeben, der
widernatürlichkeit, der geschmacklosigkeit. tournier betreibt das
spiel mit einer hauptfigur, mit alexandre, der haargenau dem typ des
homosexuellen dandys entspricht, dem real existierenden klischee des
snobistischen, leicht effeminierten, triebgesteuerten und spleenigen
home fatal, dessen harausbildung sowohl vom schrecken der bürger
wie vom talent des ausgegrenzten, dem schreckbild sich anzugleichen,
gefördert wurde - und bläst furios zur gegenattacke.
ein buch voller verklärung des zwillingstums und der homosexualität.
über die müllabfuhr französischer grossstädte und
über ein heim mit geistig behinderten insassen. es wären zahlreiche
andere untertitel denkbar. zweifellos ein dicht verwobenes gespinst,
ein gesellschaftsroman aus der perspektive des aussenseitertums. es
bürgen dafür die selber erzählenden hauptfiguren und
das schicksal einer französischen fabrikantenfamilie in der zeit
kurz vor, während und nach dem 2. weltkrieg. was hinzukommt, ist
eine tadellose recherche, es wäre unmöglich, dass ein einzelner
autor soviel fachwissen über die entsetzlichsten geistigen behinderungen
und über müllbeseitigung von alleine erbringen könnte.
um das letzte, misslungene drittel des romans zu schreiben, ist tournier
um die ganze welt gereist: städtebeschreibungen aus eigener anschauung,
nur haben sie mit dem ganzen roman nichts mehr oder wenig mehr zu tun.
ich schlage vor,
einen kleinen rundgang durch den roman zu unternehmen.
die fabrikantenfamilie surin:
marie-barbara, gattin und vielfache mutter.
edouard, gatte und vater. besitzer einer textilfabrik.
jean und paul, seine söhne und ein zwillingspaar. unterhalten eine
liebesbeziehung und sprechen miteinander die zwillingssprache äolisch.
alexandre, bruder edouards, dandy und 'könig des unrats'.
gustave, der andre bruder edouards, eine blasse nebenfigur.
das der textilfabrik angegliederte kinderheim sainte-brigitte und einige
der zöglinge und betreuerinnen.
méline, magd im haushalt marie-barbara surins.
der roman beginnt
mit einer realistischen sprache recht einfallsreich, aber eindimensional.
es wird sich im weitern verlauf zeigen, dass tournier am besten schreibt,
wenn seine figuren selber sprechen. hier, im auftakt, redet ein erzähler,
stellt die familie vor, die fabrik, den ganzen betrieb auf 'pierres
sonnantes', erörtert die gesellschaftsordnung und das doppelleben
edouards, der eine geliebte, florence, im fernen paris unterhält.
das alles wird sehr intellektuell vor einen hingestellt, gar nicht erzählt,
sondern hingestellt und wie abschliessend kommentiert. das kann funktionieren,
weil nachher die einzelnen hauptfiguren zu erzählen beginnen, sonst
ergäbe das einen langweiligen roman, zu dem man keine literarische,
nur eine voyeuristische beziehung eingehen könnte. ein bisschen
ähnelt die art des schreibens hier der sprache max frischs im 'stiller',
was die darstellung einer ehe betrifft. ein andauerndes résumieren
und psychologisieren, aber wenig veranschaulichung übers jedem
sichtbare, grad greif- und denkbare hinaus.
> Die
Krankheit, an der er nach zwanzig glücklichen, fruchtbaren Ehejahren
litt, war eine Art Spaltung seines Wesens, durch die in ihm Durst nach
Zärtlichkeit und sexueller Hunger auseinanderfielen. Er war stark,
ausgeglichen, seiner selbst und der Seinen sicher gewesen, solange dieser
Durst und dieser Hunger verschmolzen waren mit seinem Geschmack am Leben,
seiner leidenschaftlichen Bejahung des Daseins. Nun aber flösste
Marie-Barbara ihm nur noch eine grosse, unbestimmt-sanfte Zärtlichkeit
ein, in die er seine Kinder, sein Haus, seine bretonische Küste
mit einschloss, ein tiefes Gefühl ohne Glut und Feuer, so wie jene
Herbstnachmittage, an denen die Sonne aus den Nebeln des Arguenon emportaucht,
um sogleich in lieblichen, goldenen Wolken wieder hinabzusinken. Seine
Männlichkeit gewann er bei Florence wieder, in ihrer roten Höhle
voll naiv-dubiosen Hexenwerks, das ihm ein bisschen zuwider war, obschon
sie sich den Anschein gaben, als lachten sie miteinander darüber.
Auch noch etwas anderes erstaunte ihn und zog ihn an: die ihr eigene
Fähigkeit, ihre mediterrane Herkunft, ihre Familie, auf die sie
leichthin anspielte, und letzten Endes sich selbst aus der Distanz zu
betrachten. Beobachten, urteilen, sich lustigmachen können, ohne
darum etwas eigenes zu verleugnen, dabei den Sinn für andere unversehrt,
seine Liebe tief und unantastbar zu bewahren - dazu war er nicht imstande,
und gerade dafür gab ihm Florence ein mustergültiges Beispiel.
<
etwas platt die
beschreibung der geistig behinderten kinder, der mutterschaft marie-barbaras
("ihre kinder... diese mutter ohne zahl weiss gar nicht recht,
wie viele es sind."// "vielleicht ist er einfach entschwunden,
weil seine frau so völlig in ihrer ersten schwangerschaft aufging,
dass sie deren flüchtigen urheber vergessen hatte.").
der roman fängt mit dem 2. kapitel an, mir zu gefallen, mit 'alexandres
tronbesteigung', das heisst dessen übernahme des väterlichen
müllunternehmens. alles, was mir am buch gefällt, wird rund
280 seiten später mit alexandres tode enden.
> Nach
und nach lockte mich das Negative, fast möchte ich sagen das Invertierte
dieses Erwerbszweigs. Hier war ein Reich, das sich in den Strassen der
Städte breitmachte und das auch seine Ländereien - die Müllplätze
- besass, aber es reichte auch tief hinein in das Intimste, geheimste
Leben der Menschen, denn jede Handlung, jede Bewegung hinterliess in
ihm die Spur, den unleugbaren Beweis dafür, dass sie geschehen
war: Zigarettenkippen, Brieffetzen, Küchenabfälle, Damenbinden
usw. Es ging letztlich darum, Besitz zu erfgreifen von einer ganzen
Bevölkerung, und zwar von hinten her, auf eine umgekehrte, auf
den Kopf gestellte, nachtseitige Art. <
gerade der schöngeist
alexandre, wie schön die pointe, baut sich ein müllimperium
auf und entwickelt aus einer anfänglich exotischen distanz immer
grössere lust, den ganzen gesellschaftsmüll unter seine fittiche
zu bringen, an ihm herumzuriechen, durch ihn hindurchzuwaten, ihn zu
äufnen, zu beherrschen und zu verwerten und ihn als materielles
und geistiges symbol der kultur schlechthin hochleben zu lassen. er
gewinnt allem unrat reiz und farbe ab, duft und geschmack, erhabenheit
und grösse, und erhebt sich dermassen, parallel zum spott- und
abgesang auf die heterosexualität und der ihr zugrundeliegenden
lustfeindlichen moral, ein zweites und ebenso grandioses mal über
die miesepeter gegen die lebensfreude, die bösherzige und spiessige
sittenwächterei, die engstirnige und moralinsaure sauberkeitsevangelisation,
die rigide unterdrückung und ihre lammfromme gefolgschaft.
die heterosexualität voller regeln, zwänge, verbote, eintönig
und dumpf, im gefängnis der konvention, der limitierung, der ehe,
des grauen einerleis von reproduktion und monogamie, die homosexualität
dagegen ein einziges wagnis und glück, lauter mutproben und abenteuer,
glorreiche streifzüge und siege, jagdreviere und orte der begegnung,
stetige extatische trunkenheit und gluten der leidenschaft. dick aufgetragene
sexuelle fantasien, groteske szenen, hochamtliche zelebrierung tabuisierter
temen. und dieser spott, dieser sarkasmus, dieser mirakulöse, fundamentale
dauerprotest gegen die zivilisierte und lebensfeindliche ehrbarkeit,
die lächerlichmachung der macht schlechthin - ich kann das buch
trotz etlicher mängel nur empfehlen. es macht freude, einen tabubrecher
am werk zu sehen, der die herrschaftsverhältnisse aufdeckt und
verspottet und ein gegensystem hinstellt, das in ihnen selbst unterirdisch
und korrumpierend schon aktiv ist, als das eigentlich befreiende und
somit tragende, erhabene, heilige. tournier versteht es, aus der analyse
eine geschichte, aus einer filosofie ein geschehen zu machen und darin
immer neue wege und abwege aufzuzeigen, biegungen, brechungen, krümmungen
zu verfolgen.
ähnlich verfährt der autor mit der behandlung des zwillingstemas,
dem er das einlingswesen pejorativ gegenüberstellt. auch hier gelingt
ihm eine saftige und launige gesellschaftsanalyse und ein munterer triumf
über das gewöhnliche, eindimensionale, in verschiedener hinsicht
zurückgebliebene der real existierenden normalität. dies tema
zieht sich bis an den schluss des buches, indes ein drittes hauptrangiges,
über die genialität der geistigen behinderung, sich nur auf
einige kapitel erstreckt. schön der einfall, dreiecksbeziehungen
und die damit zusammenhängenden motive und problemstellungen zu
schildern, eine aus der heterosexuellen-, eine andre aus der homosexuellen-,
die dritte aus der zwillingsperspektive. wirkt die erste ein wenig abgeklatscht
und zu allbekannt, so hat es die zweite in sich, paart sich toruniers
spitze zunge mit seiner reichen fantasie, die sich offenbar weniger
im darstellen herrschender als vielmehr im überstülpen visionärer
verhältnisse entfalten kann. ich würde sagen, zur heterosexuellen
dreiecksbeziehung (wie zur heterosexualität an sich) steht der
autor in einem distanzierten, etwas unscharfen und klischierten verhältnis,
die homosexualität und deren komplexes beziehungsgeflecht kennt
und nennt er aus eigener erfahrung, das schildert er alles sehr détailverliebt
und bis in die hintersten ecken ausführlich und belebt. darüber
hat er sich sehr viele gedanken gemacht und fassbare, unschematische
charaktere erschaffen. das dritte verhältnis nun finde ich das
erstaunlichste. was er da alles im zwillingstum erkennt und wie er die
liebesbeziehung der brüder untereinander und dann das hinzukommen
einer frau in des einen leben darstellt und verlebendigt, wie er schliesslich
das zwillingstum und seine spezifischen chancen und gefahren aufstöbert
und an ungeahnten dingen und vorgängen festmacht, ist fasenweise
grosse literatur.
materie und pseudomaterie, stadt und antistadt, markt und schwarzmarkt...
immer ziehen sich die trefflichsten und gut gefundenen und erfundenen
gegensätze durch den über 300 seiten hervorragend konzipierten
roman.
auf diesen gelungenen 300 seiten, also im guten teil des romans, ist
es sehr stimmig, dass bald paul, dann der andre zwilling jean, bald
wieder edouard, hernach wieder alexandre die kapitel schreiben. zwei
der protagonisten, edouard und alexandre, sterben, andere, die auch
mitgeschrieben, verschwinden, tauchen als autoren einfach nicht mehr
auf. in dieser deutlich vom visionären, kontrapunktischen, von
der persiflage geprägten teil muss gar nichts erklärt werden,
es dürfen figuren für ein kapitel auftauchen und ohne weiteres
wieder verschwinden. im letzten teil, pauls irrfahrt durch die welt
auf der vergeblichen suche nach seinem bruder, wüsste man hingegen
gerne, wer warum nicht schreibt oder eben doch. man fragt sich plötzlich,
beispielsweise, wie paul soviel über seinen verstorbenen onkel
alexandre wissen kann. es hängt wohl damit zusammen, dass die diversen
städte, vancouver, venedig, berlin etc. und die dazukommenden temenkomplexe,
die japanischen gärten, der bau der mauer in berlin und andere,
auf einer sehr realen, keineswegs mehr fiktiven, sondern reportagemässigen
ebene angegangen werden. das wirkt gegenüber dem vorherigen und
in diesem umfang befremdlich und mit der zeit ohne zusammenhang mit
allem zuvor erbrachten und geleisteten. ausserdem kommt ein mangel des
schriftstellers tournier zum vorschein, der zuvor nicht störend
ins auge stach: dass ihm eine dichterische sprache fehlt. die ganze
reiserei, die für liebhaber zweifellos interessanten städteschilderungen
gleichen doch mehr einem touristischen führer denn bedeutender
literatur. solange tournier seine fantasien ausgeformt, seine gegenwelten
folgerichtig aufgebaut, las sich sein roman spannend und anregend. jetzt
aber kriegen die kapitel den charakter mehr oder weniger lustloser intermezzi,
vielleicht aus der idee heraus, einen temporeichen wirbel zum schluss
hinzukriegen. die innere spannung aber zerfällt, über rein
rationale erkenntnis, über fotografisch genaue, aber leblose schilderung
kommt er nicht mehr hinaus. blaise cendrars, der grosse schweizer dichter
französischer sprache, hat ähnlich ausgefranste werke hinterlassen,
nur in wenigen zwei oder drei büchern bilden seine romane eine
kompakte einheit. man sieht es ihm aber nach, weil er immer, was er
auch tut oder unterlässt, hervorragend schreibt, eine virtuose,
mächtige, hochpoetische sprache pflegt, durchwegs ein grosses ästetisches
vergnügen zu bieten hat.
tournier bietet ein intellektuelles vergnügen und ein filosofisches.
er hat sich hinreissen lassen, einen hervorragenden roman zu zerreden
und im letzten drittel inhaltlich auszudünnen. zerstört hat
er ihn deswegen nicht, weil er nach zwei dritteln als abgeschlossen
und sehr gelungen gelten kann.
man nehme seinen
letzten teil für ein anderes buch.